B 5.4 Spuren im Kartenbild

5.4 Spuren im Kartenbild

Der Ansatz eines kartographischen Spurenkonzeptes ähnelt Vorgängen der Spurensuche in der Realität, da der visuelle Eindruck beider optischen Räume – zumindest bei „naturähnlichen Kartenformen“ – auf ähnliche gedankliche Bedingungen schließen lässt. Überraschenderweise spielen Karten beim „Spurenparadigma“ nach Gerhard Hard (1995)Hard, G. (1995): Spuren und Spurenleser. In: Osnabrücker Studien zur Geographie, 16 oder bei den epistemologischen Ausführungen zur Spurensuche von Sybille Krämer (2016b)Krämer, S. (2016b): Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? In: Spur – Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Berlin keine Rolle. Vor allem auch in der Arbeit „Kognitive Karten“ von Downs et al. (1982)Downs, R.M. u. Stea, D. (1982): Kognitive Karten: Die Welt in unseren Köpfen. New York. wurde ein möglicher Einfluss von kartographischen Medien auf die räumliche Konzeptbildung mehr oder weniger vernachlässigt. Dies erstaunt umso mehr, als das gedankliche „georäumliche Repertoire“, das in den Arbeiten eine begleitende, wenn nicht sogar entscheidende Rolle spielt, ohne Karten als Unterstützung für die Wissensfindung in der Realität oder als Basis für räumliche Vorstellungen heute kaum denkbar erscheint. Der Grund für diese angedeutete Situation liegt vermutlich darin, dass die georäumliche Konzeptbildung aufgrund der spezifischen medialen Bedingungen von Karten erheblich von denen abweicht, die erlebnisorientiert z.B. von der Position eines Fußgängers, Fahrzeugfahrers oder Flugpassagiers ausgehen, so dass dieser Aspekt zu völlig neuen Fragestellungen im Rahmen der genannten Arbeiten geführt hätten. Auch die Vorstellungen, die von Texten und der Betrachtung von Fotos, Bildern bzw. Satellitenbildern ausgehen, sind zwar denen, die von der Kartensicht herrühren angenähert, unterscheiden sich aber in wesentlichen Bedingungen. Der Ansatz eines kartographischen Spurenkonzeptes ähnelt Vorgängen der Spurensuche in der Realität, da sich der visuelle Eindruck beider optischen Räume ähnelt.

Die Bildung eines gedanklichen „georäumlichen Repertoires“ ist ohne Karten heute kaum denkbar.

Die gedankliche Konzeptbildung in Karten unterscheidet sich von der eines erlebnisorientierten Fußgängers, Fahrzeugfahrers oder Flugpassagiers.

Aufgrund dieser vermeintlichen Unterschiede bei der gedanklichen Informationsgewinnung und räumlichen Konzeptbildung sollen im Folgenden zur Diskussion eines „kartographischen Spurenkonzeptes“ Kriterien der vorgestellten realitätsbezogenen bzw. epistemologischen Spurentheorien und die in Kapitel 5.3 aufgeführten Theorieansätze der Sprachwissenschaften herangezogen und mit kartographischen Ansätzen verglichen werden. Im Folgenden werden für ein „kartographisches Spurenkonzept“ ausgewählte sprachliche Theorieansätze der Sprachwissenschaften diskutiert.
Welche Aspekte der Spurensuche könnten also für die Kartographie relevant sein? Als eine erste Antwort kann, wie schon ausgeführt wurde, die in der Literatur weitverbreitete Aussage vorangestellt werden, dass eine wichtige Eigenschaft der Spur ihre bestimmende Vieldeutigkeit ist, durch die Erkenntnisbildung und Wissen als etwas grundsätzlich Offenes und Dynamisches gesehen wird und, das was Spuren zeigen, unbeabsichtigt entstanden sein muss, denn sonst sind es bewusst als Spuren inszenierte Zeichen (Krämer 2016b)Krämer, S. (2016b): Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? In: Spur – Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Berlin. Diese Aussagen treffen allerdings nur auf einige Beispiele der in dieser Arbeit aufgeführten sprachlichen Ansätze von Spurentheorien zu, da bei der Mehrzahl der Ansätze nicht die unmittelbare „Erweiterung von Wortbedeutungen“ im Mittelpunkt steht, sondern die Verfolgung ihrer grammatikalischen und semantischen Strukturierung bzw. Entstehung. Dieser Ansatz verweist gleichfalls auf die Strukturierung von Graphik, wie es z.B. durch den Ansatz der Kartographischen Modellformen für die Kartographie dargestellt wurde. Zur Verdeutlichung werden die im vorigen Kapitel vorgestellten Spurenansätze in ihrem möglichen Stellenwert für die Kartographie analysiert. Bei der Mehrzahl von Spurenansätzen steht nicht nur die Erweiterung von Wortbedeutungen im Mittelpunkt, sondern die Verfolgung ihrer grammatikalischen und semantischen Strukturierung.

Dieser Ansatz lässt sich vermutlich auf den Ansatz der Kartographischen Modellformen übertragen.

5.4.1 Epistemologische „Spursuche“ in der Karte und in der natürlichen Umwelt

Die Karte, in ihrer ursprünglichen und einfachen Form, ist eine graphische, in die Ebene projizierte Szenerie alltäglicher Erscheinungen unserer Umwelt. Einerseits sind dies Gegenstände (Objekte), die im realen Raum verteilt sind und gegebenenfalls sind es Strecken zur Anzeige ihres geometrischen Zusammenhangs oder Areale zu ihrer gemeinsamen räumlichen Ausbreitung und Zuordnung. Insgesamt sind es Erscheinungen, die täglich im unmittelbaren Umfeld wahrgenommen oder in diesem Rahmen als tägliche Erlebnisse erfahren werden. Allerdings können die Objekte, die in der Karte als räumlicher Zusammenhang angeordnet bzw. platziert sind, in der Realität in der Regel nicht direkt in ihrer gesamten Ausbreitung wahrgenommen und erfahren werden. Hinzu kommt, dass diese Objekte gegenüber der Realität in ihren abgebildeten Größen reduziert, auf wesentliche Merkmale begrenzt, in ihrer Bedeutung abstrahiert und häufig zusammengefasst sind. Die Karte, in ihrer ursprünglichen und einfachen Form, ist eine graphische, in die Ebenen projizierte Szenerie alltäglicher Erscheinungen unserer Umwelt.

Kartenobjekte verfügen allerdings im Vergleich zur Realität nur über ein begrenztes Angebot an Merkmalen.

Vermutlich kann dieser elementare Zusammenhang zwischen Realität und Karte bei der Betrachtung epistemologischer bzw. alltäglicher Spurensuche in Karten eine Rolle spielen, da die Objekte und Sachverhalte, die genannt wurden, als allgemeiner kultureller Besitzstand anzusehen sind, das heißt, konventionalisierten Wissenskonzepten entsprechen, die auch für den unmittelbaren Gebrauch von Karten zur Verfügung stehen. Diese Konzepte schließen aber auch die Gewissheit mit ein, dass das, was in der Karte abgebildet ist, nicht der wahrgenommenen und erlebten Realität entspricht, sondern dieser lediglich in bestimmten Aspekten ähnelt. Für die epistemologische bzw. alltägliche Spurensuche in Karten spielt dieser elementare Zusammenhang zwischen Karte und Realität eine grundlegende Rolle.
Aufgrund des Abbildungsverhältnisses zwischen Realität und Karte spielen die meisten für den Bereich der Realität genannten natürlichen Spurenelemente im Rahmen kartographischer Abbildung keine Rolle, wie etwa „Fußabdrücke“, die auf eine vergangene Anwesenheit schließen lassen, „Asche“, die auf ein Feuer oder „Blütenstände“ einer Pflanze, die auf eine bestimmte Jahreszeit hinweisen. Was aber kan in Karten Spuren anzeigen, wie würden diese Spuren erkennbar sein und welche Bedingungen würden zu ihrer Deutung führen? In Karten werden also, wie oben angedeutet, Objekte oder Sachverhalte unmittelbar und in ihren geometrischen und inhaltlichen Relationen mittelbar durch Zeichen angezeigt, so dass anscheinend auch nur diese Elemente bzw. ihre gedanklichen Konzepte zu Spuren führen können. In Karten sind die meisten in der Realität als Spuren identifizierten Elemente aufgrund des kartographischen Maßstabsverhältnisses unbedeutend.

Objekte und ihre Relationen werden unmittelbar durch Zeichen angezeigt und führen daher zum Auffinden von Spuren.

5.4.2 Zeichentheoretische Aspekte kartographischer Spurensuche

Ein kartographisches Zeichen, das in Form eines „schwarzen Rechtecks“, als „Objektaufriss“ oder als „dreidimensionales Bild“ präsentiert wird, kann aus zeichentheoretischer Sicht den Begriff „Haus“ repräsentieren. Ein Interpret kann dieses Zeichen visuell identifizieren, als Begriff inhaltlich deuten sowie sich diesen Begriff auf der Basis gedanklich verfügbarer „Hausbeispiele“ in Form einer konkreten Szenerie bildlich vorstellen. Dieser gedankliche Konzeptualisierungsvorgang kann durch Begriffsvarianten oder durch Verdeutlichung der begrifflichen Umgebungen eine Ausweitung der denotativen Bedeutung durch ihre Konnotationen bewirken, die als „assoziative Nebenbedeutung“ eines Zeichens in bestimmten Abbildungs- und Äußerungszusammenhängen durchaus dominant sind und beim Rezipienten z.B. zu einer Verdichtung oder Absicherung der eigentlichen Zeichenbedeutung führt. Das ikonische Zeichen „Rechteck“ kann den Begriff „Haus“ repräsentieren und wird durch gedanklich verfügbare „Hausbeispiele“ vorgestellt.

Eine Verdichtung oder Absicherung dieser eigentlichen Zeichenbedeutung (Denotat) kann zusätzlich durch konnotative Merkmale verbessert werden.

Theoretisch lässt sich eine solche denotative und auch konnotative Konzeptualisierung von einem weitergehenden Prozess der Wissensableitung unterscheiden, bei dem nicht eine „konzeptuelle Verdichtung“ der Zeichenbedeutung im Mittelpunkt steht, sondern darüber hinaus zu einer Erweiterung des gewonnene Wissen führt und zusätzlich, z.B. unabhängig vom jeweiligen „semantsichen Feld“, funktionale, historische oder soziale Merkmale bzw. individuell erlebte Erscheinungen betrifft. In diesem Sinn kann „Wissenserweiterung“ als Ergebnis eines Hinweises oder einer Spur interpretiert werden. Eine solche Spurenbildung ist zwar ebenfalls einer spezifischen Zeichenbedeutung zugeordnet, stützt sich aber vor allem auf die jeweilige szenischen (räumlichen) Zeichenumgebung und regt zur Verfolgung eines Bedeutungszuwachses an, der der momentanen und individuellen gedanklichen Ausrichtung des Rezipienten entsprechen kann. Diese „verdichtete Zeichenbedeutung“ kann wiederum durch die Entdeckung und Verfolgung einer Spur erweitert werden.

Spuren, gehen zwar vom jeweiligen Zeichendenotat aus, regen aber zur Verfolgung eines Bedeutungszuwachses an.

Welche Bedingungen und Situationen könnten dann aber zu einer gedanklichen „Spurenaktivität“ in Karten führen? Eine Variante ist, wie schon in Kap. 5.3.1 dargestellt wurde, dass Spuren in epistemologisch Hinsicht, das heißt unter einem „unmittelbaren“ Eindruck oder auch „vortheoretsch“, wie es Sybille Krämer (2016a)Krämer, S. (2016a): Spur – Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Berlin formuliert, entdeckt und verfolgt werden. Spuren in diesem ursprünglichen Sinn, müssen in der Karte entdeckt werden und sind erst auffällig und relevant, wenn eine Ordnung gestört ist, wenn Abweichungen auftreten oder wenn das Erwartete nicht eintritt. Eine Spur ist nur eine Spur, wenn sie als Spur gebraucht wird und weist als Markierung in Abhängigkeit von der jeweiligen Interpretierung auf etwas anderes hin. Situationen, die zu einer gedanklichen „Spurenaktivität“ mit Karte führen:

Spuren werden entdeckt und sind relevant, wenn eine Ordnung gestört ist, wenn Abweichungen auftreten etc.

Ein „Haus“ kann dabei zu unterschiedlichen Vorstellungen führen:

Allerdings kann am genannten Beispiel „Haus“ gezeigt werden, dass sich die Bedeutung eines Zeichens auch schon im Rahmen der gedanklichen Konzeptbildung aufgrund der uneindeutigen Struktur von Klassen erweitern kann. So führt die denotative Ableitung von Zeichenbedeutungen zu unterschiedlichen Vorstellungen, indem beispielsweise ein Begriff
  • als sprachtheoretisches Modell „invarianter Begriffsmerkmale“,
  • als ein zufällig „erinnertes Beispiel“ oder
  • als ein „Prototyp“

vorgestellt wird.

 

 

Ein Prototyp (z.B. „Wohnhaus“) stellt sich dabei als ein besonders „typischer Vertreter“ eines Hauses dar (vgl. Kap. 4.3.6), muss aber nicht zwangsläufig sämtliche Modellmerkmale der Klasse „Haus“ umfassen, ist aber besonders relevant für die gedankliche Konzeptbildung. Das gleiche gilt für ein erinnertes Beispiel (z. B. „das Haus meiner Eltern“), das ebenenfalls nicht unmittelbar mit den entsprechenden sprachlogischen Begriffsmerkmalen übereinstimmen muss, dafür aber in der Regel gedanklich unmittelbar zugänglich ist. Diese relative Offenheit der begrifflichen Konzeptualisierung ermöglicht also die Ableitung weitgestreuter Bedeutungshinweise, woraus sich neue Fragestellungen ergeben können, wie etwa zu „bauhistorischen Merkmalen“, zur „Eigentümer- oder Mieterstruktur“ oder zur „Lärmbelästigung durch die umgebende Verkehrssituation“. Diese Bedeutungserweiterung kann also als Ergebnis einer hinweisenden Spur gedeutet werden, die mit dem angebotenen Zeichendenotat bzw. der jeweiligen Bedeutungsumgebung im Zusammenhang steht. Der Prototyp „Wohnhaus“ stellt sich als ein besonders typischer Vertreter der Objektklasse „Haus“ dar.

Diese Vorstellung kann als Spur erweitert sein durch „bauhistorischen Merkmale“, „Eigentümer- oder Mieterstruktur“, „umgebende Verkehrssituation“.

Insgesamt wird sich dieser spezifische Aspekt des Spurenbegriffs in Karten auf mehrere Bedingungen des Zeichenangebots beziehen können: Der Spurenbegriff in Karten kann sich auf folgende Bedingungen des Zeichenangebots beziehen:
  • auf den spezifischen Bedeutungszusammenhang eines Zeichens und seiner Zeichenumgebung;
  • als Bedeutungserweiterung, wenn sie durch das jeweilige Zeichendenotat angeregt wird;
  • vorgangsbezogen als „Bedeutungsverlauf“ mit der Folgerung zu weitergehender Fragestellungen;
  • durch Auffälligkeit und Relevanz, wenn eine Ordnung gestört ist, wenn Abweichungen auftreten oder wenn das Erwartete nicht eintritt;
  • wenn die Markierung in Abhängigkeit von der jeweiligen Interpretation auf etwas anderes hinweist;
  • aus der momentanen und individuell gedanklichen Ausrichtung und den Bedürfnissen des Rezipienten;
  • durch beim Rezipienten entsprechend angelegtes Wissen- und Fähigkeitspotenzial.
Diese Bedingungen und Faktoren bilden also Möglichkeiten, dass ein Rezipient angeregt wird, Zeichenbedeutungen über das unmittelbar zugeordnete Denotat hinaus zu erweitern und daher Karten individueller und bedürfnisorientierter zu gebrauchen. Definitorisch können diese zeichentheoretischen Überlegungen sicherlich als Form eines „Spurenkonzeptes“ aufgefasst werden. Im Folgenden sollen aber, darüber hinausgehend, die im Kapitel 5.3 dargestellten sprachwissenschaftlichen Spurenansätze mit den Bedingungen kartographischer Präsentation und visuell-gedanklicher Konzeptbildung verglichen werden. Es soll also diskutiert werden, in welcher Form sprachwissenschaftliche Spurenansätze zur Deutung kartographischer Wissensbildungsprozesse beitragen können. Diese zeichentheoretischen Spurenaspekte in Karten können unter dem Stichwort „Wissenserweiterung“ zusammengefasst werden.

Im Folgenden soll diskutiert werden, ob die weiteren schon dargestellten sprachwissenschaftlichen Spurenansätzen zur Deutung der kartographischen Wissensbildung beitragen könnten.

5.4.3 Spuren im Kontext sprachlicher und kartographischer Regeln

Im Gegensatz zur epistemologischer Entdeckung und Verfolgung von Spuren, wie sie in der Realität und im alltäglichen Gebrauch zu erwarten sind, kann beim reflektorischen Vergleich zwischen dem sprachlichen Spurenlesen und dem kartographischen Spurenlesen nur bedingt von einer „vortheoretischen“ Deutung von Spuren ausgegangen werden. Sprachwissenschaftlich werden Wort-, Satz- und Textbedeutungen mit Hilfe grammatikalischer und semantischer Regeln nachvollziehbar in abstrakte Strukturen eingebunden, so dass abzuleitende sprachliche Spuren auf diese Strukturen bezogen werden. Die Gliederung von sprachlichen Einheiten, also der Bau von Sätzen und die Form von Wörtern sowie deren Bedeutungen führen nicht nur zur Ableitung oder Entdeckung von Spuren einzelner und isolierter Sprachelement, sondern gehen vom jeweiligen Sprachkontext aus und sind damit eingebunden in das zugehörige sprachliche Regelwerk, das aufgrund von sprachlichen Konventionen verfügbar ist. Besonders anspruchsvoll vollzieht sich die Spurensuche im Bereich von Fach-, Kunst- und künstlerischen Sprachen, so dass dort auch ganz spezifische gedankliche Ebenen als Spurenwissen abgeleitet werden können. Beim reflektorischen Vergleich zwischen sprachlichem Spurenlesen und kartographischem Spurenlesen kann nur bedingt von einer „vortheoretischen“ Deutung von Spuren ausgegangen werden.

Sprachwissenschaftlich werden Wort-, Satz- und Textbedeutungen mit Hilfe grammatikalischer und semantischer Regeln in abstrakte Strukturen eingebunden.

Sprachliche Spuren werden auf diese Strukturen bezogen.

Für die Kartographie bzw. für Karten stellen sich die Bedingungen einer „möglichen Spurensuche“ weniger festgelegt dar. Neben dem geometrischen Gerüst einer Karte, dass einheitlichen Bedingungen unterliegt, wie etwa topologischen, euklidischen und georefferenziellen Größen, existiert für den sonstigen graphisch-geometrischen Aufbau von Kartenszenen nur bedingt ein allgemein gültiges Regelwerk, das als Rahmen bei der Setzung oder Verfolgung von Spuren berücksichtigt werden könnte. Eine gewisse Ausnahme bildet der semiologische Ansatz von Bertin (vgl. Bertin 1974Bertin, J. (1974): Graphische Semiologie. Diagramme, Netze, Karten. Berlin, New York), der sich zwar theoretisch auf nachvollziehbaren Regeln stützt, in seiner Anwendung aber eher aufgrund „gefestigter methodischer Gewohnheiten“ realisiert wird. Insgesamt existieren theoretisch, technisch und praktisch geprägte Kartenvarianten, die nutzungs- und handlungsorientiert zur Anwendung kommen und größtenteils spezifischen Gebrauchskonventionen unterliegen. Für den graphisch-geometrischen Aufbau von Karten existiert kein festgelegtes Regelwerk.

Es existieren aber theoretisch, technisch und praktisch geprägte Kartenvariationen, die in ihren Anwendungen gebrauchsspezifischen Konventionen unterliegen.

Karten können hinsichtlich ihres medialen Stils als eine abstrahierende Reduktion einer detaillierten oder naturgetreuen Vorlage – wie etwa der Realität – in Form eines einfaches Musters mit hohem Wiedererkennungswert und einfacher Reproduzierbarkeit angesehen werden. Dieser Status ist sozusagen „selbstverständlich“ und ergibt sich aus den Regeln eines Mediums. Er ist aber in der kartographischen Theorie und Praxis, von Ausnahmen abgesehen, wie z.B. bei topographischen, planerischen oder geologischen Kartenwerken, aufgrund der sonst weitgestreuten Funktion kartographischer Produkte nur bedingt erfahrbar. medialer Stil von Karten:

  • Reduktion einer detaillierten und naturgetreuen Vorlage,
  • ein einfaches Muster mit hohem Wiedererkennungswert,
  • einfache Reproduzierbarkeit.
Der sich historisch entwickelte, aber auch anhaltende und gezielte Einfluss auf den oben genannten medialen Stil kartographischer Medien, führt zu einer nicht sofort erkennbaren Vieldeutigkeit von Karteninhalten, die eine nachvollziehbare Bewertung von Spurenansätzen nur bedingt möglich macht. So lassen sich beispielsweise Ansätze der Kartenproduktion unterscheiden, bei denen die zu vermittelnden Zeichenbedeutungen von dem latent vorausgesetzten Ziel der georäumlichen Repräsentation prinzipiell abweichen. Dies ist einmal durch Chiffrierung der Fall, wenn zum Beispiel spezielle Elemente der abgebildeten Realität z.B. aus politischen oder sonstigen gesellschaftlichen Gründen nicht abgebildet werden oder in einer falschen Lageposition verortet sind und damit die Realität verfälschend repräsentieren und zu falschen Handlungen führen können. Oder dies zeigt sich im Fall der Symbolisierung von Kartenelementen bzw. Karte insgesamt, bei der der Karteninhalt nicht die vorliegende Realität repräsentieren soll, sondern z.B. unter religiösen oder mythologischen Gesichtspunkten angelegt ist. Bei diesen Beispielen kann sich die Spurensuche nicht auf ein zugrundeliegendes „realitätsnahes Konzept“ stützen, sondern muss sich auf die jeweiligen Chiffren- und Symbolmodelle beziehen. „stilbezogene“ Ansprüche bei Karten:

  • Chiffrierung von Karteninhalten führt z.B. aus politischen oder gesellschaftlichen Gründen zum „Unterdrücken“ von Informationen.
  • Symbolisierungen führen zu Karteninhalten, die nicht die Realität repräsentieren, sondern z.B. auf religiöse oder mythologische Gesichtspunkte ausgerichtet sind.
Ein weiterer Aspekt, bei dem übliche kartographische Regelansätze zumindest modifiziert werden, zeigt sich in den sich häufig historisch entwickelten Charakteristika von kartographischen Darstellungstheorien oder Produktionsformen, die häufig eigene Gebrauchskonventionen voraussetzen. Zum einen handelt es sich um sog. Darstellungsmanien, also um einen etablierten Präsentationsstil spezieller Kartenelemente, wie z. B. bei der „Schweizer Manier“, als eine besonders anschauliche Form der Geländedarstellung (vgl. Koch 2002dKoch, W. G. (2002d): Schweizer Manier. In: Lexikon der Kartographie und Geomatik. 2, Heidelberg). Zum anderen haben sich u. a. bei Kartenverlagen oder -ämtern verschiedene Kartenstile als sogenannter „Kartenduktus“ entwickelt, die sich institutionell auf graphische und inhaltliche Gestaltung- und Produktionsregeln beziehen und deren Gebrauch häufig spezielle konventionelle Rezeptionsformen voraussetzen. Sowohl die Darstellungsmanier als auch der Kartenstil zielen unmittelbar auf die oben genannte „abstrahierende Reduktion einer detaillierten oder naturgetreuen Vorlage“, erfordern aber eigene Regelwerke der Kartendarstellung und gehen nicht konform mit der Annahme einer einheitlichen kartographischen Rezeptionskonvention, wie es häufig in der kulturwissenschaftlichen Literatur – zumindest indirekt – postuliert wird. Charakteristika“ von Karten:

  • Darstellungsmanie: etablierter Darstellungsstil wie z. B. „Schweizer Manier“ als anschauliche Form der Geländedarstellung;
  • Kartenduktus: spezifische Gestaltungs- und Produktionsregeln von Verlagen oder Institutionen.
Zusammenfassend lassen sich für eine Spurensuche in Karten vorausgesetzte regelhafte konzeptuelle Bedingungen vor allem in theoretischer Hinsicht nur bedingt mit denen von sprachlichen Texten vergleichen, obwohl auch für einige Bereiche solche ansatzweise unterstelt werden können. Vor allem in der amtlichen aber auch der sogenannten thematischen Kartographie haben sich zum Teil Regelwerke entwickelt, die in ihren Rezeptionsauswirkungen in etwa mit sprachwissenschaftlichen Regeln zu vergleichen sind. Regelhafte Bedingungen für eine kartographische Spurensuche lassen sich also nur bedingt mit denen von sprachlichen Texten vergleichen

5.4.4 Spurentheorien unter grammatikalischen und graphischen Bedingungen

Es wurden Sprach- und Kartenstrukturen hinsichtlich der Vergleichbarkeit ihrer Regelhaftigkeit angesprochen, um damit Spurensuche „zur Ausweitung oder Variation der Wissensbildung“ als ein mehr oder weniger nachvollziehbares Phänomen zu bestimmen. Wie angedeutet wurde, kommt Texten vermutlich ein höheres Maß an Regelhaftigkeit zu als Kartenmustern, was sich auch in der Verbreitung und Verfügbarkeit von entsprechenden Konventionen niederschlägt. Texten kommt damit ein höheres Maß an Regelhaftigkeit zu als Karten.
Nun wurde auch gezeigt, dass sich mit Hilfe der Transformationsgrammatik die Bedeutung von Wörtern oder deren Veränderungen aufgrund von sogenannten generativen Verfahren aus einer „Tiefenstruktur“ in eine „Oberflächenstruktur“ in Form einer Spur verfolgen lassen soll, wobei die Bedeutungsstruktur sich in der Oberflächenstruktur unmittelbar zeigt. Entscheidend hierbei ist, dass die abstrakte Ebene der Tiefenstruktur eines Satzes einer theoretischen Analyse zugängliche ist, da auf ihr eine nachvollziehbare Erklärung für die zustande kommende Variation in der Oberflächenstruktur ausgedrückt ist. Das Setzen einer Spur beinhaltet also Regeln, die aus der Bedeutungsstruktur eines Satzes erklärt werden. Die generative Transformationsgrammatik setzt dabei einen Sprecher/Hörer voraus, der über ausreichende Sprachkompetenz verfügt und der prinzipiell den von ihm verinnerlichten Regelapparat der Sprache – allerdings unbewusst – beherrscht und nutzt. In der Transformationsgrammatik wird die Bedeutung von Wörtern oder deren Veränderungen von einer „Tiefenstruktur“ in eine „Oberflächenstruktur“ als Spur verfolgt.

Dabei beinhaltet das Setzen einer Spur Regeln, die aus der Grammatik und Bedeutungsstruktur eines Satzes erklärt wird.

Dieser theoretische Ansatz der Grammatik positioniert Spurenaspekte also auch in den inneren und strukturellen Bereich des Sprachverständnisses und nicht nur in den Bereich einer Ausweitung oder Variation von Textbedeutungen, wie es in vorherigen Kapiteln gezeigt wurde. Für die Kartographie würde damit die theoretische, formale und konstruktive Gestaltungs- und Bedeutungsstruktur von Karten bzw. die Struktur Kartographischer Modellformen angesprochen sein, die es als Spur nachzuverfolgen gilt und deren Regeln auf der Basis von Strukturelementen und -mustern dem Kartenrezipienten zur Verfügung stehen müssten. Die Frage stellt sich dabei, ob ein Kartenverständnis davon abhängig ist, dass der Kartenrezipient die zugrundeliegenden Gestaltungsmodi kennt und womöglich beurteilen kann, welche Veränderungen sich bei der Bedeutung von Zeichen oder Mustern aus einer Veränderung dieser Modi ergeben. Die Unterscheidung in „kartographische Tiefen- und Oberflächenstruktur“ könnte sicherlich zu einem besseren Verständnis von Karten führen, wird aber erschwert durch die verschiedenen angedeuteten Stilformen der Kartographie, die häufig auf unterschiedlichen gestalterischen „Tiefenstrukturen“ basieren und in der Regel nicht beim Kartenrezipienten entsprechend verfügbar sind. Dies trifft die Gestaltungs- und Bedeutungsstruktur von Karten, die in Form einer Spur nachzuverfolgen ist.

Erschwert wird dies durch die verschiedenen Stilformen der Kartographie, die beim Rezipienten (als Tiefenstruktur) nicht allgemein verfügbar sind.

Der allgemeine Eindruck von kartographischen Tiefenstrukturen lässt sich an den in dieser Arbeit aufgeführten Kartographischen Modellformen sehr gut nachvollziehen. Besonders die flächen- und oberflächenhaften Formen, wie beispielsweise Choroplethen, Dichtepunkte, Flächendiagramme, Gestufte Gittersignaturen und Isarithmen weisen „Strukturmerkmale“ auf, die aufgrund ihrer hohen Abstraktion nur noch bedingt mit natürlichen Erscheinungen der repräsentierten Realität in Übereinstimmung gebracht werden können (vgl. Kap. 2.1 ). So sind bei diesen Modellen konkrete örtliche Zuordnungen ohne separate georäumliche Kennzeichnungen, z.B. durch sogenannte „Basiskarten“, erheblich eingeschränkt, was zusätzlich auch aus einer fehlenden ortsbezogenen logischen und geometrischen Zuordnung von Objektbedeutungen resultiert. Als Folge ergeben sich separate Muster, die als selbständige „Aktionsebenen“ nur noch bedingt visuell-gedanklich auf den repräsentierten Georaum zu übertragen sind. Besonders deutlich wird dies am Beispiel einiger Kartographischer Modellformen (Choroplethen, Dichtepunkte, Flächendiagramme, Isarithmen).

Bei diesen Modellen sind regelhafte örtliche Zuordnungen ohne separate georäumliche Kennzeichnungen mit sog. Basiskarten kaum noch möglich.

Es stellt sich also die Frage, inwieweit bei diesen, aber auch generell bei sämtlichen Kartographischen Modellformen Spuren räumlich aber auch inhaltlich abgegrenzt identifiziert werden können, wie es bei grammatikalisch geformten Texten in der Regel der Fall ist. Allein die maßstabsbezogene räumliche Verdrängung von Zeichen bzw. deren präsentierten natürlichen Positionen führen prinzipiell zur Lageabstraktion, die die bisher vorausgesetzte Spurenentdeckung und -verfolgung in Frage stellen müssen. Strukturell haben wir es also anscheinend bei vielen Karten mit „unabhängig wirkenden graphischen Ebenen“ zu tun, die nicht ohne weiteres mit der natürlichen Realität oder beispielsweise mit den aus der Sprache abgeleiteten „gedanklichen Konzepten der Realität“ übereinstimmen oder zu vergleichen sind. Die maßstabsbezogene Verdrängung von Zeichen (Objekten) in Karten führt zu Lageabstraktion, die aufgrund ihrer „Zufälligkeit“ nicht mit Texten zu vergleichen sind; sie stehen einer regelbasierten Spurenentdeckung und -verfolgung entgegen.

5.4.5 „Grammatologische“ und räumliche Spurensuche

In den Sprachwissenschaften wird, wie schon in Kap. 5.3.2 ausgeführt, unter „Grammatologie“ verstanden, dass bei Prozessen des Lesens und Sprechens der Inhalt eines Textes („Textsinn“) nie abgeschlossen ist, sondern dass die Unterscheidung von Worten zum kontinuierlichen „Verlagern“ von Bedeutungen oder zu ständig neuen Bedeutungen führt, das heißt, das der Sinn eines Textes, solange gesprochen bzw. gelesen wird, sich permanent gedanklich verändert. Es handelt sich also beim Sprechen und Lesen um einen fortschreitenden Prozess, der zum Verstehen eines Textes führt und nach Jacques Derrida, durch „Spuren“ als verbindende Merkmale charakterisiert ist. Danach steht kein Element eines Textes allein da, sondern jedes Wort verfügt über ein Kennzeichen als Spur, das auf die nächstfolgenden Worte verweist. Für die kartographische Informationsgewinnung kann danach die Frage gestellt werden, ob im kontinuierlichen Vorgang der Erfassung von Elementen im Kartenbild ähnliche Abläufe der Bedeutungsbildungen zu erwarten sind, wie im Sprachprozess „Grammatologie“ beschreibt einen Prozess des Lesens und Sprechens, bei dem der Inhalt eines Textes nicht abgeschlossen ist, sondern zu ständig neuen Bedeutungen führt.

Für die Kartographie stellt sich danach die Frage, ob im Kartenbild ähnliche Abläufe der Bedeutungsbildungen zu erwarten sind.

 

Beim Sprechen oder Lesen kann auf Sprachstrukturen sowie auf Lese-, Hör- und Schreibkonventionen zurückgegriffen werden, in derem Kontext das Spurenkonzept nach Derrida theoretisch beschrieben ist. Für die räumliche Spurensuche in Karten soll daher, vergleichbar mit der Verarbeitung von Sprachstrukturen, formal unterschieden werden, welche Zeichen- und Bedeutungsstrukturen angeboten werden, in welcher Form der visuelle Zugriff auf diese Strukturen erfolgen könnte und wie dieser Zugriff gegebenenfalls als „Spur“ gedanklich dokumentiert wird: Für eine mögliche kartographische Spurentheorie können folgende Voraussetzungen formal unterschieden werden:
  • Karten verfügen über eine zweidimensionale Projektionsebene, auf der Elemente georäumlich verortet sind und ihnen Bedeutungen zugewiesen werden.
  • Elemente in Karten weisen grundsätzlich zweidimensionale Grundrissformen auf und unterliegen den in Teil A Kap.1 diskutierten Bedingungen kartographischer Abbildung;
  • als räumliche Aspekte von Kartenelementen werden die Lagegeometrie und die Konstruktionsgeometrie von Zeichen unterschieden; Lagepunkte sind angezeigte georäumliche Positionen von repräsentierten Elementen, Konstruktionspunkte sind konstruktive Stützpunkte von Zeichengebilden;
  • der Verlauf von linienhaften und der Umriss von flächenhaften Elementen wird aus der Folge verbundener Lagepunkte gebildet, wobei bei flächenhaften Elementen Lage- und Konstruktionspunkte identisch sind: sie umschließen eine Zeichen- bzw. Objektgrundrissfläche ;
  • bei Oberflächen ergeben sich Elemente aus einer Verteilung von meistens nicht gekennzeichneten Lagepunkten in der zweidimensionalen Kartenebene; die Höhe der Punkte der Oberfläche repräsentiert dabei die zugehörige substanzielle Bedeutung;
  • positionierte Elemente können Relationen zu jedem anderen in der Kartenebene positionierten Element aufweisen, wobei die Relationen aufgrund ihrer Lagepositionen Distanzen und Nachbarschaften und aufgrund ihrer repräsentierten Bedeutung Aussageverbindungen repräsentieren;
  • aufgrund des Zusammenhangs von mehreren Elementen und Relationen können sich georäumliche Muster bilden.
Bezogen auf diese Definitionen lassen sich mindestens zwei Kategorien von Zugriffsmöglichkeiten unterscheiden, nach denen auch mögliche Spurenansätze beschrieben werden könnten. Als elementare Vorgänge lassen sich die visuell-gedankliche Positionierung von Standorten, die Verfolgung von Linienverläufen und Flächenbegrenzungen sowie die Positionierung von Lagepunkten auf Oberflächen unterscheiden. Aus den identifizierten graphischen Kennzeichnungen dieser Elemente bzw. aus der Höhe der Punkte von Oberflächen werden repräsentierte substanzielle Bedeutungen als Begriffe und Aussagen abgeleitet. Daraus resultieren:

Elementare Wahrnehmungsvorgänge,

Auf einer höheren visuell-gedanklichen Ebene können aus den Relationen von zwei oder mehr Elementen beispielsweise Distanzen und Bedeutungsunterschied abgeleitet oder Mustereinheiten gebildet werden. Jede Elementbedeutung (eines Zeichens bzw. Objektes) kann individuell registriert, und jede Relation kann um weitere Relationen bzw. Elemente erweitert werden. Höhere Wahrnehmungsvorgänge.
Voraussetzung für diese Vorgänge sind das jeweilige Angebot und die bestimmte Verteilung von Elementen in der Kartenebene. Die Bestimmung der Ausrichtung und der Reihenfolge des Wahrnehmungsvorgangs wird dann durch die räumliche Nähe von Elementen sowie der graphischen und damit inhaltlichen Bedeutung von Elementen beeinflusst. Die konkrete Steuerung der Blickrichtung und die Reihenfolge der Fixierung werden zusätzlich aufgrund von Fragestellungen oder Zielen und im Zusammenhang mit der momentanen gedanklichen Ausrichtung des Rezipienten bestimmt. Kartographische Bedeutungsfindung:

  • Angebot in der Kartenebene
  • die räumliche Nähe und Bedeutung von Elementen
  • Fragestellungen und Disposition des Rezipienten

 

Bei der Einschätzung dieser komplexen Voraussetzungen und Bedingungen kartographischer Wahrnehmung kann einem möglichen Spurenaspekt eine wichtige Funktion zukommen. So ist es möglich, dass in Karten u.a. aufgrund des Fehlens einer „Satzstruktur“, die Bedeutungsableitung von Zeichen nicht so fest verankert ist, so dass im Wahrnehmungsverlauf mit „Wiederholungsvorgängen“, wie etwa zum Ergänzen, Hinterfragen und Korrigieren der Konzeptbildung, zu rechnen ist. Diese Annahme wird im Teil C dieser Arbeit mit Hilfe von Augenbewegungsmessungen bestätigt werden können. Abschnitte des Wahrnehmungsverlaufs sowie die angedeuteten Wiederholungsvorgänge bilden quasi zusammen ein Netz von Spuren, mit dessen Hilfe sich sowohl die Konzeptualisierung von Bedeutungsclustern als auch das kritische Hinterfragen und Gliedern von ganzen Kartenszenen anbietet. Dabei kommt dem Erinnern von Prozessabschnitten ein großer Stellenwert zu. Dies wird beispielsweise in den Ausführungen von Bennington (2001)Bennington, G. (2001): Jacques Derrida. Ein Portrait, Frankfurt a. Main zum Textverständnis herausgestellt. Aufgrund des Fehlens einer „Satzstruktur“ in Karten, ergeben sich visuell-gedankliche Wiederholungen im kartographischen Konzeptualsierungsprozess.

Daraus resultiert ein Netz von gedanklichen Spuren, deren sinnvolles Erinnern zu einem effektiveren Wahrnehmungsverlauf führen kann.

 

Insgesamt stellt der Grammatologische Ansatz nach Jacques Derrida eine vielversprechende Möglichkeit dar, die Einschätzung von Kartographischen Wahrnehmungsprozessen differenzierter zu betrachten. Mit den bisherigen Ausführungen werden allerdings noch keine weiteren Folgerungen für die Kartographie deutlich, so dass es sicherlich sinnvoll ist, den Spurenansatz der Grammatologie, nach kartographischen Merkmalen weiter zu untersuchen. So könnte mit Hilfe des Grammatologischen Ansatzes ein möglicher kartographischer Spurenansatz differenzierter betrachtet werden.

5.4.6 Rhizomatik und Kohärenz in Texten und Medien

Die bisher diskutierten Varianten eines möglichen Spurenansatzes in der Kartographie gingen von einer gedanklichen Differenzierung von Bedeutungseinheiten aus, wie etwa Einheiten mit einer Hinweisfunktion oder Einheiten zur Erweiterung, Gliederung und Überprüfung von abgeleitetem Kartenwissen. Einheiten können dabei einzelne Zeichen (Objekte, Begriffe) oder Bedeutungszusammenhänge bzw. Kartenmuster mit unterschiedlicher Komplexität und Struktur umfassen. Mit der Darstellung in Kap. 5.4.5 wurden, vergleichbar mit Sprachstrukturen, kartographische Zeichen- und Bedeutungskriterien aufgezeigt, die die Voraussetzungen zur Zusammenfassung von Bedeutungseinheiten („Wissensclustern“) bilden und die der Rezipient im Wahrnehmungsprozess gedanklich anlegt und insgesamt zur Wissensgewinnung verwenden kann. Einzelne Zeichen oder ganze Bedeutungszusammenhänge können separate „Karteneinheiten“ bilden.
So können zwei Bedingungen bei der Zusammenfassung von Bedeutungseinheiten eine Rolle spielen. Einmal die Wichtung und Wirkung der Einheiten zueinander, ob ihnen der gleiche oder ein unterschiedlicher Stellenwert bei ihrer Verknüpfung zukommt. Zum anderen die Frage, ob sich die Verknüpfung von Bedeutungseinheiten aufgrund eines bestimmten inhaltlichen Zusammenhangs ergibt, das heißt zum Beispiel aufgrund einer Verwandtschaft, die zu einer gemeinsamen Eigenschaft der neu gebildeten Einheit führt. In den Sprach- und den Medienwissenschaften werden dazu formale Strukturen diskutiert, die z.B. im Rahmen von Hypertext oder Hypermedia eine Rolle spielen sollen (vgl. z.B. Brech 2013Brech, J. (2013): „A digitalized Derrida“ – Zum Verhältnis von Poststrukturalismus und Hypertext. Hausarbeit, FernUniversität Hagen). Zwei Bedingungen der Zusammenfassung von Karteneinheiten:

  • der strukturelle Unterschied,
  • der Stellenwert des inhaltlichen Zusammenhangs.
Zum ersten Aspekt, der Wichtung und Verkettung von Bedeutungseinheiten, wird im Kontext mit der Ausrichtung eines modernen Textverständnisses, der Begriff „Rhizom“ bzw. „Rhizomatik“ vorgeschlagen mit der Bedeutung, dass die in einem Text integrierten Strukturen und Ansätze frei verkettet sind bzw. keine Hierarchien oder feste Netze bilden (Deleuze et al. 1977Deleuze, G. u. Guattari, F. (1977): Rhizom. Berlin). Damit wird die Freiheit für den Rezipienten angedeutet, der im Rahmen von Hypertext oder Hypermedia ohne Einschränkung zwischen Medieneinheiten gedanklich agieren kann (vgl. Röttgers 2012Röttgers, K. (2012): Rhizom. In: Lexikon der Raumphilosophie. Darmstadt). Technologisch wird Rhizomatik besonders durch die „nichtlineare“ oder offene Verknüpfung von sogenannten „Informationsknoten“, also von verketteten Medieneinheiten in Hypermedia realisiert. Ein modernes Textverständnis geht dahin, dass die in einem Text integrierten Strukturen und Ansätze frei verkettet (rhizomatisch) sind.
Zum inhaltlichen Zusammenhang von Karteneinheiten wurden u.a. für die Textlinguistik die Begriffe „Mikrotext“ und „Makrotext“ vorgeschlagen, deren Beziehungen in Form von Medien- oder Spracheinheiten als sogenannte „Intertextualität“ angegeben werden. Die Ausprägung dieser Intertextualität zeigt sich durch den Grad ihrer „Kohärenz“ oder kohärenten Beziehung, also dem Grad des inhaltlichen Zusammenhalts von Mikrotexten im Rahmen eines Makrotextes (vgl. de Beaugrande et al. 1981Beaugrande, de, R.-A. u. Dressler, W.U. (1981): Einführung in die Textlinguistik. Tübingen; Blühdorn 2006Blühdorn, H. (2006): Textverstehen und Intertextualität. In: Text-Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Institut für Deutsche Sprache, Jb. 2005, 277-298, Berlin). Mit „Intertextualität“ werden kohärente Beziehungen zwischen Mikrotexten im Rahmen eines Makrotextes verstanden.
Die genannten Text- und sprachtheoretischen Begriffe sind im Zusammenhang mit medientechnischen Entwicklungen vor allem im Internet von der theoretischen Ebene auf eine technologische Ebene gestellt worden. Danach führt der technologische Gesichtspunkt der „rhizomatischen Darbietung“ von Wissen mit Hilfe von „Hyperlinks“ zu einer zentralen Steuerung gleichgewichteter und gleichwirkender Mediensequenzen. Dabei kann sich die Auswahl und der Aufruf von Sequenzen, zur Bildung eines Bedeutungszusammenhangs, aufgrund ihrer „kohärenten inhaltlichen Beziehungen“ ergeben (vgl. z. B. Hendrich 2003Hendrich, A. (2003): Spurenlesen – Hyperlinks als kohärenzbildendes Element in Hypertext. Diss. Ludwig-Maximilians-Universität München). Heutige Hyperlinktechniken ermöglichen die zentrale Steuerung rhizomatische strukturierter Medieneinheiten.

Deren Bedeutungszusammenhang kann sich aufgrund ihrer kohärenten Beziehungen ergeben.