1. Kartographische Modellformen
Seit den 1950er Jahren sind infolge eines zunehmenden Bedarfs an kartographischen Abbildungen neue Kartenformen entstanden, was unter anderem in den Hand- und Lehrbüchern von Arnberger (1966)Arnberger, E. (1966): Handbuch der Thematischen Kartographie. Wien, Witt (1970)Witt, W. (1970): Thematische Kartographie. Hannover und Imhof (1972)Imhof, E. (1972): Thematische Kartographie. Berlin, New York dokumentiert ist. In den nächsten Jahrzehnten wurden – besonders beeinflusst durch den zeichentheoretischen („semiologischen“) Ansatz von Jacques Bertin (1967Bertin, J. (1967): Sémiologie graphique. Paris, dt. 1974 Bertin, J. (1974): Graphische Semiologie. Diagramme, Netze, Karten. Berlin, New York) – weitere Regeln und Festlegungen zum formalen Aufbau von Karten entwickelt, wobei sich im Anschluss daran, vor allem in technologischer Hinsicht, diese Entwicklung noch erheblich beschleunigt hat. Initiiert wurde dies vor allem durch neue rechnergestützte Kartenherstellungsverfahren und elektronische Präsentations- und Kommunikationsformen. | Seit den 1950er Jahren sind aufgrund eines zunehmenden Bedarfs an kartographischen Abbildungen neue Kartenformen entstanden. |
Zu einem zentralen Bereich dieser Entwicklungen hat W.-G. Koch (2002b)Koch, W. G. (2002b): Kartographische Darstellungsmethoden. In: Lexikon der Kartographie und Geomatik, 2, Heidelberg im Lexikon für Kartographie und Geomatik unter dem Stichwort: „Kartographische Darstellungsmethoden“ folgende Ausführungen gemacht:
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„Das System der Kartographischen Darstellungsmethoden lässt in gewissen Grenzen eindeutige, wiederholbare Prinziplösungen für die Anwendung ganz bestimmter graphischer Gefüge zu.
Der Modellbildungsvorgang muss methodisch immer vom Geoobjekt bzw. den Geodaten ausgehen und durch formale Analysen und den Vergleich mit der Struktur graphischer Gefüge deren Eignung für die optimale Datenumsetzung … bestimmen“ |
Wie deutlich wird, gehen die genannten Definitionen und konzeptionellen Ansätze von einem Methodenszenarium aus, nach dem vor allem Thematische Karten entworfen und konstruiert werden sollen. Dieser Ansatz der Kartenherstellung wird in der vorliegenden Arbeit nicht weiter verfolgt. Vielmehr wird mit dem theoretischen Ansatz der Kartographischen Modellformen, die in der Praxis als realisierte Karten genutzt und die heute meistens teilautomatisch oder im Rahmen von Geoinformationssystem vollautomatisch erstellt werden, versucht, deren Funktionen, Wirkungsmöglichkeiten und Informationsstrukturen systematisch zu erschließen. Mit der Arbeit von Bollmann (1985) Bollmann, J. (1985): Theoretische Grundlagen zur Modellierung thematischer Karten. Unveröfft. Habilitationsschrift. Freie Universität Berlin werden dazu auf der Basis eines Modellansatzes von Spiess (1974)Spiess, E. (1974): Weiterbildungskurs Thematische Kartographie. In: Schweizerische Gesellschaft für Kartographie (Hrsg.), Unveröfft. Manuskript, Zürich. theoretische Grundlagen formuliert. Ausgehend von dem von Kottenstein (1992) Kottenstein, T. (1992): Prototyp eines Zeichenreferenzsystems zur Herstellung thematischer Karten. In: Beiträge zur kartographischen Informationsverarbeitung. 13, Universität Trier erstmals an der Universität Trier praktisch erprobten, automatisch arbeitenden Karten-Konstruktionssystems THEMAK-KAREMO, wird eine Auswahl von Kartenmodellen hinsichtlich ihrer visuell-kognitiven Leistungspotentiale empirisch untersucht und die ermittelten Ergebnisse in Teil C der Arbeit vorgestellt.
Für die folgenden Ausführungen werden aus der genannten unveröffentlichten Arbeit von Bollmann (1985) Bollmann, J. (1985): Theoretische Grundlagen zur Modellierung thematischer Karten. Unveröfft. Habilitationsschrift. Freie Universität Berlin und der Arbeit Bollmann (2010) Textauszüge und Abbildung entnommen, die zum Teil nicht extra gekennzeichnet sind. |
Mit dem theoretischen Ansatz der Kartographischen Modellformen können die Funktionen, Wirkungsmöglichkeiten und Informationsstrukturen von Karten systematisch erschlossen werden.
Bei einer Auswahl von Kartenmodellen wird deren visuell-kognitives Leistungspotential empirisch untersucht. In Teil C der Arbeit werden die Ergebnisse der Untersuchungen vorgestellt.
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1.1 Theoretische Grundlagen
In Karten werden Objektmerkmale und Eigenschaften des Georaumes abgebildet. Wie weiter oben beschrieben ist, entsprechen diese Merkmale und Eigenschaften Informationsstrukturen, die visuell abgeleitet werden können und die dann gedanklich als interne Wissensrepräsentation dem Organismus zur Verfügung stehen. | Georäumliche Objektmerkmale sollen Informations- und Wissensstrukturen entsprechen, die durch den Kartennutzer abgeleitet werden. |
Dem Modell des Georaums liegt die allgemeine Definition von Raumstrukturen zu Grunde: Sie dienen dem Menschen als „Bezugsrahmen für die Anordnung und Abbildung materieller und geistiger Gegenstände durch Positionen, Distanzen, Nachbarschaften und Verbindungen“ (Bollmann 2002e, S.256fBollmann, J. (2002e): Raum. In: Lexikon der Kartographie und Geomatik, 2, Heidelberg). Sowohl für die dreidimensionale Abbildung des Georaumes, z.B. mit Hilfe von Landschafts- und Geländemodellen, als auch für die Wahrnehmung und mentale Ableitung von geometrischen und substanziellen Raummerkmalen werden zum Teil einheitliche Begrifflichkeiten verwendet. Piaget et al. (1975a)Piaget, J. u. Inhelder, B. (1975a): Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde. Gesammelte Werke, 6, Stuttgart nennen für den Bereich der kognitiven Entwicklungspsychologie die Begriffe „Euklidischer Raum“ und „Topologischer Raum“, um damit die Entwicklung von geometrischen und räumlichen Wahrnehmungsfähigkeiten bei Kindern untersuchen zu können (vgl. Teil A, Kap. 3.2). | Das Modell des Georaums dient dem Menschen als „Bezugsrahmen für die Anordnung und Abbildung materieller und geistiger Gegenstände mithilfe von Positionen, Distanzen, Nachbarschaften und Verbindungen“ |
Insgesamt besteht eine gewisse Übereinstimmung zwischen natürlichen, graphischen, wahrgenommenen und vorgestellten Räumen, deren Merkmale und Eigenschaften sich für Beschreibungen und Analysen unter anderem auf geometrische und substanzielle Größen sowie auf bildliche Eindrücke und Vorstellungen rückführen lassen. So werden beispielsweise in der Kartographie die geometrischen Merkmale des dreidimensionalen Raumes durch die Abbildung von in der Umwelt wahrgenommenen perspektivischen Geländeeffekten graphisch nachvollzogen. Weiterhin werden Merkmale wie „räumliche Tiefe“ und „räumliche Entfernung“ als wahrgenommene perspektivische Trübung der Atmosphäre mit Hilfe von entsprechend wirkenden Grautonabstufungen oder Texturgradienten graphisch reproduziert. Substanzielle Sachverhalte und Bedeutungen von Objekten können unter anderem durch ikonische und symbolische Zeichenformen graphisch repräsentiert und optisch übermittelt werden (vgl. Teil A, Kap. 4.1 u. 4.2). | Es besteht eine Übereinstimmung zwischen natürlichen, graphischen, wahrgenommenen und vorgestellten Räumen. |
Ergänzend zu diesen Überlegungen und Maßnahmen zur Abbildung konkreter Merkmale der Realität, stehen bei „Kartographischen Modellformen“ vor allem räumliche und inhaltliche Relationen von Erscheinungen der Realität im Mittelpunkt. Schwerpunkt der Überlegungen ist die Möglichkeit, diese relationalen Strukturen durch entsprechend wirkende graphische Konstrukte abzubilden, um daraus entsprechende Verteilungs-, Ordnungs- und Bewertungskriterien abzuleiten. Dieser Ansatz der kartographischen Visualisierung ist zuerst mit dem Theorieansatz der „Graphischen Variablen“ von Bertin (1967)Bertin, J. (1967): Sémiologie graphique. Paris und weiter differenziert von Spiess (1970)Spiess, E. (1970): Eigenschaften von Kombinationen graphischer Variablen. In: Grundsatzfragen der Kartographie. Wien formuliert worden | Kartographische Modellformen sind auf die inhaltliche und georäumliche Relationen von Sachverhalten in Form von graphischen Zeichenkonstrukten ausgerichtet. |
1.2 „Thematisches Raummodell“ nach Ernst Spiess
Georäumliche Abbildungen in Form von Karten oder anderen kartographischen Medien werden seit Langem auf der Basis von georäumlichen und graphischen Merkmalen methodisch konzipiert und konventionell oder heute rechnergestützt mit Hilfe von Verfahrensregeln konstruiert sowie technisch hergestellt. | Kartographische Modellformen bilden die „methodische Schnittstelle“ zwischen dem konzeptionellen Entwurf und den verfahrenstechnischen Ausführungen. |
Konzeptionelle Vorgehensweisen sind heute aufgrund intelligenter Software, bei der in der Regel Datenstrukturen, Graphikbausteine und vorgangsbezogene Standardeinstellungen (Defaults) vorgegeben sind, nur noch bedingt erforderlich. Konzeptuelle Überlegungen sind häufig erst dann wieder relevant, wenn Kartenergebnisse vorliegen, die aus bestimmten und häufig nicht einsehbaren Gründen nicht funktionieren oder tradierten Vorstellungen und Erfahrungen widersprechen. Das vorgestellte Konzept Kartographische Modellformen hat das Ziel, die strukturellen Merkmale einer Karte bzw. die sich dahinter verbergenden Kartenkonzepte nachvollziehbar zu machen. Das bedeutet, es soll aufzeigen, auf Grund welcher theoretischen und methodischen Vorgaben sowie reizbedingten Direktiven der kartographische Wissensbildungsprozess visuell geführt wird und welche visuell-kognitiven Wirkungen von den verschiedenen Varianten von kartographischen Abbildungen ausgehen können. | Das Konzept Kartographische Modellformen soll aufzeigen, auf Grund welcher Vorgaben sowie reizbedingten Direktiven der kartographische Wissensbildungsprozess visuell geführt wird und welche visuell-kognitiven Wirkungen von den verschiedenen Varianten von kartographischen Abbildungen ausgehen können. |
Das Konzept „Thematisches Raummodell“ nach Spiess (1974)Spiess, E. (1974): Weiterbildungskurs Thematische Kartographie. In: Schweizerische Gesellschaft für Kartographie (Hrsg.), Unveröfft. Manuskript, Zürich. repräsentiert ursprünglich einen modelltheoretischen Ansatz zur Konstruktion von thematischen Karten. Mit der vorliegenden Arbeit wird dieser Ansatz erweitert, um als Grundgerüst von Karten Hinweise zu geben, welcher Blickverlauf und welche Bedeutungskonzeptionen aufgrund vorgegebener graphischer Bedingungen zu erwarten sind. Nach dem Konzept von Spiess kann zur Verteilung von Werten im Raum das Kontinuum eines Raummodells verwendet werden, dessen auf einer Oberfläche F verorteten Elemente auf eine Konstruktionsebene K projiziert werden (Abb. 12.1). |
Nach Ernst Spiess kann zur Verteilung von Werten im Raum das Kontinuum eines „Thematischen Raummodells“ verwendet werden. |
Abb. 12.1 Thematisches Raummodell (Kontinuum) verändert nach Spiess (1974)Spiess, E. (1974): Weiterbildungskurs Thematische Kartographie. In: Schweizerische Gesellschaft für Kartographie (Hrsg.), Unveröfft. Manuskript, Zürich. | |
Die Oberfläche F des Thematischen Modells wird durch die Lagegrößen X, Y und die Höhe Z definiert, also F = F (X, Y, Z); Z = f (X, Y), dabei ist Z stetig und kann alle Werte zwischen Zmin und Zmax annehmen. Im durch eine Kontinuumsfläche begrenzten Raum gelten dann die Werte zwischen Zmin und Zmax pro x-, y-Koordinate, also Zi = f (xi, yi). Die Höhe (Z) kann dabei reale, messbare oder abstrakte und berechnete Werte annehmen. |
Die Oberfläche F eines Thematischen Modells wird durch die Lagegrößen X, Y und die Höhe Z definiert. |
1.2.1 Varianten des Thematischen Raummodells
1.2.2 Raummodell und Graphische Variablen
Mit Hilfe des Thematischen Raummodells wird der projektive Zusammenhang von Kartographischen Modellformen abgeleitet. Durch diese Ableitung können sukzessiv Modellformen identifiziert werden, die bestimmte Daten-, Graphik- und Konstruktionsbedingungen erfüllen. Weiterhin kann verdeutlicht werden, bei welchen Varianten, das heißt unter welchen Modellbedingungen, georäumliche Informationen abgeleitet werden können. So lassen sich beispielsweise aus diskret gestuften Oberflächen nicht unmittelbar stetige Werteverläufe ableiten. Ebenfalls können bei endlich abgegrenzten Gebieten diskrete Werte nur für jedes Gebiet und nicht für einen stetigen Übergang zwischen Gebieten ermitteln werden. | Durch die Ableitung von Modellvarianten können sukzessiv Modellformen identifiziert werden, die bestimmte Daten-, Graphik- und Konstruktionsbedingungen erfüllen. |
Dazu stellt sich die Frage, inwieweit georäumliche Muster nicht grundsätzlich visuell-gedanklich als Kontinuum verarbeitet werden, also als Kontinuum zur mentalen Repräsentation, zur langfristigen gedanklichen Speicherung und zur Problemlösung in einem bestimmten Handlungskontext zur Verfügung stehen? Dies kann verdeutlich werden, wenn Graphische Variablen Kartographischen Modellformen zugeordnet werden (Bertin 1974 Bertin, J. (1974): Graphische Semiologie. Diagramme, Netze, Karten. Berlin, New York). In Abbildung 12.11 sind Beispiele für die dreidimensionale Wirkung bzw. für die visuelle Realisierung von Modellvarianten mit Hilfe von Graphischen Variablen gezeigt. | Werden georäumliche Muster visuell-gedanklich als Kontinuum verarbeitet und stehen zur mentalen Repräsentation, zur langfristigen gedanklichen Speicherung und zur Problemlösung in einem bestimmten Handlungskontext zur Verfügung? |
Im Rahmen dieser Arbeit soll das Konzept der Graphischen Variablen nicht weiter erläutert werden, da es in dem genannten Werk von Jacques Bertin und in zahlreichen weiteren Veröffentlichungen, mit z. T. erweiterten Bedeutungen, thematisiert wurde. Stellvertretend dafür soll, als zentraler Gedanke, die Wirkung der graphischen Variablen für die Repräsentation von Dateneigenschaften (Objektbeziehungen) zitiert werden. Dem semiologische Theorieansatz nach Bertin folgend, führt P. Tainz Tainz, P. (2001): Graphischen Variablen. In: Lexikon der Kartographie und Geomatik. 1, Heidelberg im Lexikon der Kartographie und Geomatik u.a. aus (2001 Tainz, P. (2001): Graphischen Variablen. In: Lexikon der Kartographie und Geomatik. 1, Heidelberg):
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Das Konzept der Graphischen Variablen wird im Werk von Jacques Bertin (1974) und in zahlreichen weiteren Veröffentlichungen mit z. T. erweiterten Bedeutungen thematisiert. |
Auch der Begriff Datenskalierung („nominalskalierte Daten“ etc.) wird hier nicht weiter erläutert, obwohl sein Gebrauch im Zusammenhang mit Graphischen Variablen und auch generell den Kartographischen Modellformen durchaus wichtig und nicht immer eindeutig ist. Zu weiteren Informationen sei auf die ausführliche Diskussion bei Gigerenzer (1981)Gigerenzer, G. (1981): Messung und Modellbildung in der Psychologie. München., Uthe (1991)Uthe, A.-D. (1991): Kartographische Kommunikationsschnittstelle zur Verarbeitung geowissenschaftlicher Daten. In: Beiträge zur kartographischen Informationsverarbeitung. (Diss.), 3, Universität Trier und Kessler-de Vivie (1993)Kessler-de Vivie, Ch. (1993): Ein Verfahren zur Steuerung der numerischen Klassenbildung in der thematischen Kartographie. In: Beiträge zur kartographischen Informationsverarbeitung, 6, Universität Trier verwiesen. Tainz (2002a)Tainz, P. (2002a): Skalierungsniveau. In: Lexikon der Kartographie und Geomatik. 2, Heidelberg hat im Lexikon der Kartographie und Geomatik die Struktur von Skalierungsniveaus zusammengefasst. | Der Begriff Datenskalierung ist im Zusammenhang mit den Graphischen Variablen und mit den Kartographischen Modellformen nicht eindeutig. |
Die in Abb. 12.11 zugeordneten Graphischen Variablen haben demnach also die Funktion, die Ausprägung von Z-Werten im Kontinuum visuell zu unterstützen. Wie ersichtlich wird, erzeugen sie durchaus entweder einen „gewölbten“ oder dem Konzept des räumlichen Kontinuums von Spiess folgend, einen „planaren“ Eindruck eines Thematischen Raummodells. | Graphische Variablen unterstützen die visuelle Ausprägung von Z-Werten im Kontinuum und folgen damit dem Konzept des räumlichen Kontinuums. |