Damit graphische Elemente oder bedeutungstragende Zeichen überhaupt wahrgenommen werden können bzw. zur Musterbildung Verwendung finden, müssen grundlegende graphische bzw. visuelle Bedingungen erfüllt sein. Mark Schira (2004) Schira, M.M. (2004): „Die Verarbeitung von Konturen im visuellen Kortex des Menschen.“. Diss., FB Biologie/Chemie, Univ. Bremen hat in seiner Dissertation als Einleitung sehr schön beschrieben, welche Merkmale zur visuellen Trennung von Objekten und zu ihrer Lokalisation im Raum geeignet sind: |
Bewegung, Textur, Farbe und Kontur sind elementare Merkmale zur visuellen Identifizierung und Lokalisierung von Objekten in der Realität. |
„Wenn sich ein Primat schnell durch die Baumwipfel bewegt, bewegen sich auch die Abbilder der umgebenden Objekte auf seiner Netzhaut. Die Geschwindigkeit und Richtung dieser Bewegung hängen von der Entfernung und relativen Position der Objekte zum wahrnehmenden Tier ab. … Neben Bewegung stellt die Oberflächenbeschaffenheit oder Textur ein weiteres Objekt kennzeichnendes Merkmal dar. Eine Schlange, die unbewegt im Gewirr von Ästen und Blättern lauert, fügt sich zwar perfekt in ihre Umgebung ein, unterscheidet sich aber von einem Ast durch die Textur ihrer Oberfläche. Ein weiteres Merkmal für die Identifikation von Objekten ist die Farbe. Der Farbumschwung einer reifenden Frucht von grün zu rot ist, hinsichtlich der Änderung im Frequenzspektrum des reflektierten Lichtes, nicht so deutlich, wie es uns erscheint. Es ist vielmehr unser visuelles System, das darauf eingestellt ist, dieses überlebenswichtige Merkmal zu entdecken. Die Entdeckung und Integration von Konturen ist für die oben aufgeführten Aufgaben von zentraler Bedeutung. Konturen können also definiert sein durch Farbe, Bewegung oder Textur. Sie können real vorhanden oder auch nur wahrscheinlich oder vermutetet sein.“
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Die Faktoren der Wahrnehmung, die hier von Schira aufgeführt sind, haben nicht nur in der bewegten Realität einen herausragenden Stellenwert, sondern bilden auch bei der Wahrnehmung in visuellen Medien wichtige Hinweisreize zur Aufnahme und Unterscheidung von bildlichen oder graphischen Musterelementen. Wie gezeigt wurde, kommt Farben, einschließlich Grautönen und Texturen, im Prozess der visuellen Wahrnehmung auch im Bereich der Kartographie ein hoher Stellenwert zu, entsprechend umfangreich zeigen sich die Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet (vgl. auch Kap. 2 und Kap. 3.2.3). Bewegungen, durch die der Netzhaut ein sich kontinuierlich verändernder Hintergrund, gegebenenfalls mit separaten Verläufen von im Vordergrund platzierten Objekten (Musterelementen) angeboten wird, sind so in normalen georäumlichen bzw. kartographischen Präsentationen nicht zu erwarten. Allerdings ergeben sich auch durch Augen-, Kopf- und Körperbewegungen gewisse Veränderungen auf der Netzhaut, die u.a. durch Sakkadennachführungen und durch Konstanzleistungen nivelliert werden müssen. Was nicht zum Tragen kommt, sind Musterverschiebungen zwischen Wahrnehmungsebenen, die den Kontrast zwischen Elementen verstärken könnten. |
Durch Bewegungen wird der Netzhaut ein sich kontinuierlich verändernder Hintergrund, gegebenenfalls mit separaten Verläufen von im Vordergrund platzierten Objekten angeboten. |
Besonders herausgestellt sind bei Schira Prozesse und Mechanismus der Konturenwahrnehmung. In Übergangsbereichen von Flächen mit unterschiedlichen visuellen Eigenschaften werden Konturen gebildet, die die Flächen gegeneinander abgrenzen, sie ggf. als Figuren von der Umgebung abheben und die eine Formenbildung ermöglichen. Nach Schira (2004) Schira, M.M. (2004): „Die Verarbeitung von Konturen im visuellen Kortex des Menschen.“. Diss., FB Biologie/Chemie, Univ. Bremen sind V1 und V2 die größten und am besten untersuchten Areale des visuellen Kortex, die in den Neurowissenschaften bisher untersucht wurden, wonach sich in diesen beiden Arealen verschiedenes Verhalten bei der Konturenbildung unterscheiden lässt (vgl. dazu auch die Ausführungen zur Spezialisierung von Aufgaben von Zellen; Kap. 3.4.1): |
Besonders herausgestellt wird der Mechanismus der Konturenbildung, der in Übergangsbereichen Flächen gegeneinander abgrenzt, sie als Figuren von der Umgebung abhebt und eine Formenbildung ermöglicht. |
- Aktionspotentialraten eines V1-Neurons auf einer Kante wird durch parallel verlaufende Linien, die außerhalb des rezeptiven Feldes liegen, verstärkt (Kapadia et al. 2000 Kapadia M.K., Westheimer G. u. Gilbert C.D. (2000): Spatial distribution of contextual interactions in primary visual cortex and in visual perception. J. Neurophysiol, 84, 2048-2062).
- Jede Kontur „gehört“ zu Objekten, die sie trennt. Bei einem hellen Quadrat auf dunklem Hintergrund werden die vier Kanten dem Quadrat, welches den Hintergrund verdeckt, zugeordnet.
- Isolierte Figuren unterscheiden sich aufgrund des veränderten Aktionspotenzialen der Areale V1 und V2 von einer Region mit anderen Eigenschaften und werden als Figur vor einem Hintergrund wahrgenommen.
- Bei zwei Figuren (z. B. farbige, quadratische Flächen), bei der die eine die andere zum Teil überdeckt, wird die überdeckte Figur nicht als verbleibende Restfläche, sondern zusammen mit dem überdeckten Flächenanteil als vollständige Figur wahrgenommen. Damit „vermutet“ das visuelle System eine sich fortsetzende oder abschließende Kontur der verdeckten Figur (illusorische oder verdeckte Konturen vgl. Lee et al. 2001 Lee, T.S. u. Nguyen M. (2001): Dynamics of subjective contour formation in the early visual cortex. Proc. Natl. Acad. Sci. U S A, 98, 1907-1911; von der Heydt et al. 1989 Heydt, R. von der u. Peterhans E. (1989): Mechanisms of contour perception in monkeyvisual cortex. I. Lines of pattern discontinuity. J Neurosci, 9, 1731-1748).
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Diese Beispiele neuronaler Aktivitäten im visuellen Kortex bilden den Nachweis relevanter Funktionen von Konturen oder Kanten für die Unterscheidung von Figuren oder Musterelementen und haben in der aktuellen Forschungssituation der Neurowissenschaften vor allem das Ziel, eine zunehmende Spezialisierung der Aktivitäten der Areale V2 gegenüber V1 nachzuweisen. Hinzu kommt, dass sich neue Erkenntnisse im Sinn der Gestaltpsychologie ergeben haben (s.u.), nach denen der Aufbau von Reizkonstrukten durch das Geschehen in ihren Umgebungen beeinflusst wird und sich nicht nur aus einzelnen separaten Elementen bildet (Schira 2004 Schira, M.M. (2004): „Die Verarbeitung von Konturen im visuellen Kortex des Menschen.“. Diss., FB Biologie/Chemie, Univ. Bremen). Das bedeutet auch, dass bei der Konturenbildung die Aktivitäten von V1-Neuronen nicht nur von den Aktivitäten in ihren rezeptiven Feldern abhängig sind, sondern auch davon, in welchem Zusammenhang diese zum Gesamtbild stehen, also zu Aktivitäten der Umgebung (Lamme et al. 2000 Lamme V.A. u. Roelfsema P.R. (2000): The distinct modes of vision offered by feed-forward and recurrent processing. Trends Neurosci; 23 (11), 571-9; Rossi et al. 2001Rossi A.F., Desimone R. u. Ungerleider L.G. (2001): Contextual modulation in primary visual cortex of macaques. J. Neurosci, 21, 1698-1709). |
Mit den Beispielen werden neuronale Aktivitäten im visuellen Kortex zum Nachweis relevanter Funktionen von Konturen oder Kanten für die Unterscheidung von Figuren oder Musterelementen aufgezeigt. |
Damit soll u.a. erklärt werden, dass schon für elementare visuelle Vorgänge, wie der Musterbildung, differenzierte und konstruktive neuronale Prozesse erforderlich sind, obwohl mit diesen Erkenntnissen kaum die Mechanismen, die durch Aufmerksamkeit und Kontextwissen beeinflusst oder gesteuert werden, ausreichend dargestellt werden können. Besonders deutlich wird diese Situation auch dadurch, dass allein schon die perzeptive Lokalisation oder gedankliche Positionierung von Reizen im Gesichtsfeld zu umfangreichen Forschungsaktivitäten führt, um beispielsweise nachzuweisen, wie genau die Lokalisation ist oder durch welchen Lokalisationstypen Positionierungen im Wahrnehmungsvorgang beeinflusst werden (vgl. Dickmann et al. 2015 Dickmann, F.; Edler, D.; Bestgen, A.-K. u. Kuchinke, L. (2015): Auswertung von Heatmaps in der Blickbewegungsmessung am Beispiel einer Untersuchung zum Positionsgedächtnis. K.N. 65, 5, 272-280.). |
Für die Musterbildung sind konstruktive neuronale Prozesse erforderlich, die zusätzlich durch Aufmerksamkeit und Kontextwissen beeinflusst oder gesteuert werden. |
Unter anderem klassifizieren Uddin (2006) Uddin, M.K. (2006): Visual spatial localization and the two process-model. Psychological Research, 7, 65-75 und Bocianski (2010) Bocianski, D.I. (2010): Lokalisation sukzessiv präsentierter Reize – Interaktion räumlicher Aufmerksamkeit und lokaler Verarbeitungsmechanismen, Diss., Philosophische Fakultät, RWTH Aachen drei unterschiedliche Typen visuell räumlicher Lokalisation (vgl. Abb. 34.5). Dabei wird mit okulomotorischer Lokalisation das Ausführen einer Sakkade zur wahrgenommenen Zielreizposition verstanden. Aufgrund ihrer tendenziellen Unterschreitung („undershoots“) von bis zu 10 Prozent der Zielreiz-Abweichung (Exzentrizität) müssen sogenannte Korrektursakkaden berücksichtigt werden (Aidsebaomo et al. 1992 Aidsebaomo, A.P. u. Bedell, H.E. (1992): Psychophysical and saccadic information about direction for briefly presented visual targets. Vision Research, 32, 1729-1737.). Bei räumlich ausgedehnten Objekten bewegt sich der Landepunkt zum wahrgenommenen Zentrum des Objektes (vgl. z.B. Wishawanath et al. 2000 Wishawanath, D., Kowler, E. u. Feldman, J. (2000): Saccadic localization of occluded targets. Vision Research, 40, 2797-2811).
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Die visuelle Lokalisierung von Elementen eines Musters im Gesichtsfeld ist mit Zielreiz-Abweichungen verbunden, die durch Korrektursakkaden ausgeglichen werden. |
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Abb. 34.5 Formen visuell räumlicher Lokalisationen (nach
Uddin 2006 Uddin, M.K. (2006): Visual spatial localization and the two process-model. Psychological Research, 7, 65-75 u. Bocianski 2010 Bocianski, D.I. (2010): Lokalisation sukzessiv präsentierter Reize – Interaktion räumlicher Aufmerksamkeit und lokaler Verarbeitungsmechanismen, Diss., Philosophische Fakultät, RWTH Aachen) |
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