3.2 Raumbezogene Wahrnehmung nach Jean Piaget
Vor allem auf Jean Piaget geht die Beschreibung gedanklicher Operationen zurück, die die Wahrnehmung räumlicher Merkmale differenzieren und die im Wesentlichen auch für die Wahrnehmung von Figurationen zutreffen können. Jean Piaget und Bärbel Inhelder ( 1975a Piaget, J. u. Inhelder, B. (1975a): Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde. Gesammelte Werke, 6, Stuttgart, 1975b Piaget, J. u. Inhelder, B. (1975b): Die natürliche Geometrie des Kindes. Gesammelte Werke, 7, Stuttgart) unterscheiden fünf elementare Relationen, nach denen Elemente im Raum partiell gedanklich gegliedert werden. Aufbauend auf diesen elementaren Relationen, die nach ihren Überlegungen die Basis der räumlichen Wahrnehmung bilden, differenzieren sie weitere räumliche Relationen und Eigenschaften, die neben dem Raum auch die zweidimensionale Geometrie in der Darstellungsebene betreffen. Folgende Relationen werden unterschieden (aus Bollmann 1992Bollmann, J. (1992): Raumvorstellung und Kartenwahrnehmung. In: Geographie und ihre Didaktik, Festschrift für Walter Sperling, 2 ,Materialien zur Didaktik der Geographie, 16, 349-362): |
Vor allem auf Jean Piaget geht die Beschreibung gedanklicher Operationen zurück, die die Wahrnehmung räumlicher Merkmale differenzieren. |
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Es werden räumliche Relationen und Eigenschaften beschrieben, die die zweidimensionale Geometrie in der Darstellungsebene betreffen. |
Abb. 32.1 Topologische Relationen (aus Bollmann 1992 Bollmann, J. (1992): Raumvorstellung und Kartenwahrnehmung. In: Geographie und ihre Didaktik, Festschrift für Walter Sperling, 2 ,Materialien zur Didaktik der Geographie, 16, 349-362): Benachbartsein (B), räumliche Trennung (T), Reihenfolge (R), Umgebensein (U), Kontinuität (K) |
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Mit Hilfe dieser fünf elementaren topologischen Relationen (vgl. auch Abb. 32.1) kann der Wahrnehmungsraum topologisch gegliedert werden. Die Relationen bilden einerseits die Basis für die Entwicklung von Aktivitäten im Raum und sind andererseits Voraussetzung für die gedankliche Verarbeitung von konkreten räumlichen Informationen. | Die Relationen bilden die Basis für die Entwicklung von Aktivitäten im Raum und sind Voraussetzung für die gedankliche Verarbeitung konkreter räumlicher Informationen. |
Die Verarbeitung bestimmter Raumausschnitte erfolgt durch die Wahrnehmung konkreter elementarer topologischer Informationen. Mit ihnen wird der Raum individuell organisiert: Der Raumvordergrund trennt sich vom Raumhintergrund; Raumhälften verbinden sich gedanklich zu einer Raumeinheit oder werden weiter unterteilt in geordnete Folgen von Geländeabschnitten. Merkmale einer solchen Gliederung sind konkrete markante morphologische Geländeformen, Vegetations-. oder Nutzungsgrenzen, Verkehrswege etc. Sprachlich lässt sich diese Gliederung durch die Präpositionen davor, daneben, darüber, darunter, darin etc. beschreiben.
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Bedeutung von Relationen: Der Raumvordergrund trennt sich vom Raumhintergrund; Raumhälften verbinden sich gedanklich zu einer Raumeinheit sie werden unterteilt in geordnete Folgen von Geländeabschnitten. |
Abb. 32.2 Merkmale und Relationen räumlicher Wahrnehmung (aus Bollmann 1992 Bollmann, J. (1992): Raumvorstellung und Kartenwahrnehmung. In: Geographie und ihre Didaktik, Festschrift für Walter Sperling, 2 ,Materialien zur Didaktik der Geographie, 16, 349-362; vgl. Piaget et al. 1975a Piaget, J. u. Inhelder, B. (1975a): Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde. Gesammelte Werke, 6, Stuttgart) |
3.2.1 Formenmerkmale und -relationen
Mit den elementaren topologischen Relationen werden die Gliederung und Einordnung von bestimmten Gegenständen in einen räumlichen Verbund organisiert. Die Gegenstände selbst unterscheiden oder gleichen sich dabei aufgrund von lokalen Formmerkmalen (vgl. Abb. 32.2). Wichtigste Merkmale sind die übergeordneten topologischen Formmerkmale „offen“ und „geschlossen“ und „getrennt“. Eine differenziertere Unterscheidung von Gegenständen im Raum erfolgt durch euklidische Formmerkmale. Ihre gedankliche Verarbeitung setzt nach Piaget höhere Abstraktionsleistungen voraus. | Neben topologischen Differenzierungen im Raum werden Gegenständen durch euklidische Formmerkmale geordnet. |
Sie trennen Geraden, Kreise, Kurven, Winkel etc. aus dem Gesamtverbund der wahrnehmbaren Formen eines Gegenstandes und bilden Invarianten aufgrund des gedanklich verfügbaren euklidischen Formensystems. Der Wahrnehmungs- oder Wiedererkennungswert der verschiedenen Formmerkmale richtet sich nach ihrem Informationsgehalt. Dieser ist nach Klix (1971) Klix, F. (1971): Information und Verhalten. Kybernetische Aspekte der organismischen Informationsverarbeitung. Einführung in naturwissenschaftlichen Grundlagen der Allgemeinen Psychologie. Bern besonders hoch, wenn die Formenausprägungen gegenüber ihrer Umgebung auffallend sind. Dies trifft zu, wenn zum Beispiel unerwartet ein spitzer Knick in einem sonst eher gleichmäßigen Verlauf einer Kante eines Gegenstandes als ikonisches Formenmerkmal auftritt oder wenn allgemein eine bestimmte Form in einem Formenverbund seltener auftritt als andere Formen. | Euklidische Merkmale trennen Gerade, Kreise, Kurven, Winkel etc. aus dem Gesamtverbund der wahrnehmbaren Formen und bilden Invarianten aufgrund des gedanklich verfügbaren euklidischen Formensystems. |
Wie bei Gegenständen spielen bei der Wahrnehmung von höheren Relationen des Raumes vor allem gedankliche Vorstellungen eine Rolle. So setzt die Verarbeitung projektiver Relationen die gedankliche Verfügbarkeit des Systems der Perspektive voraus. Der Mensch muss den Raum als Gesamtsystem verstehen, um sich aus seinem Blickwinkel andere Ansichten des Raumes vorstellen zu können. Er verfügt über die Fähigkeit, sich ohne Ortswechsel im Raum, andere Relationen des Raumes vorzustellen. Er kann aus den Relationen, die aus dem eigenen Blickwinkel gebildet werden, auf die von der Perspektive unabhängigen Relationen eines bestimmten Raumausschnitts schließen. Zu der Vorstellung von Relationen kommt die gedankliche Konstruktion von transformierten Relationen. So können aus der perspektivischen Verkürzung von Straßen oder aus dem Zusammenlaufen von Schienen am Horizont über gedankliche Transformation diese projektiven Relationen in reale Relationen des Raumes übertragen werden. | Der Mensch kann aus den Relationen, die aus dem eigenen Blickwinkel gebildet werden, auf die von der Perspektive unabhängigen Relationen eines bestimmten Raumausschnitts schließen. |
Im euklidischen Raum werden die Nachbarschafts- und Ordnungsrelationen des topologischen Raumes durch Distanzrelationen ergänzt. Dieses ist möglich, wenn aufgrund von Maßsystemen der gesamte Raum gedanklich koordiniert, also quantitativ gegliedert werden kann. Durch die Zuordnung beliebiger Raumpunkte in solche gedanklich reproduzierten geometrisch-quantitative Systeme lassen sich Distanzen, Steigungen, Radien und Winkel im Raum schätzen. Diese können im Gegensatz zu den topologischen Relationen allerdings weniger gut konkret wahrgenommen und gedanklich als Informationen reproduziert werden. Ihre Funktion liegt vor allem in der quantitativen Beschreibung des Raumes. Dieses geschieht in Form von gedanklichen verfügbaren Koordinatensystemen, innerhalb derer die Lage von Gegenständen, zum Beispiel in ihren Abstandsrelationen, bestimmt wird. | Durch die Zuordnung beliebiger Raumpunkte in gedanklich reproduzierte geometrisch-quantitative Systeme lassen sich Distanzen, Steigungen, Radien und Winkel im Raum schätzen. |
3.2.2 Gedankliche Repräsentation georäumlicher Informationen
Die im Kap. 3.2 dargestellte und von Piaget und Inhelder erarbeitete Systematik der Raumwahrnehmung bildet eine gute Grundlage für die im Folgenden zu entwickelnden geometrischen und graphischen Modelle zur Untersuchung von georäumlichen Wahrnehmungsleistungen in Karten. Auch die psychologische Kognitionsforschung und verwandte Disziplinen stützen sich zum Teil bei der Definition von Voraussetzung zur räumlichen Wahrnehmung auf einige der oben dargestellten Definitionen. Besonders Ruth Schumann-Hengsteler (1995) Schumann-Hengsteler, R. (1995): Die Entwicklung des visuell-räumlichen Gedächtnisses. Göttingen hat sich mit der euklidisch-topologischen Systematik auseinandergesetzt. | Die Kognitionsforschung stützt sich bei der Definition von Faktoren der räumlichen Wahrnehmung häufig auf die von Piaget und Inhelder entwickelten Definitionen. |
In Abbildung 32.3 sind Positionsdefinitionen im zweidimensionalen Raum dargestellt, das heißt, Merkmale, Relationen und Muster, die für die Feststellung einer subjektiven Position im Raum zur Verfügung stehen und die in der psychologischen und neurowissenschaftlichen Literatur diskutiert werden. | |
Schumann-Hengsteler (1995)Schumann-Hengsteler, R. (1995): Die Entwicklung des visuell-räumlichen Gedächtnisses. Göttingen hat dieses Schema, vergleichbar mit den entwicklungspsychologischen Intensionen von Piaget, auf die Gedächtnis- und Repräsentationsleistungen von Kindern in unterschiedlichen Altersphasen ausgerichtet. Dabei geht es u.a. um die umstrittene Annahme von Piaget, dass im frühkindlichen Alter bei der räumlichen Positionierung vor allem topologische Größen eine Rolle spielen und erst ab dem 9. Lebensjahr euklidische Raumvorstellungen zum Tragen kommen. Spätere Untersuchungen haben dagegen gezeigt, dass euklidische Vorstellungen durchaus schon im 5. oder 6. Lebensjahr für die Positionierung genutzt werden (vgl. Huttenlocher et al. 1984 Huttenlocher, J. u. Newcombe, N. (1984): The child`s representation of information about location. In: The origin of cognitive skills. 81-111. Hillsdale NJ; Somerville et al. 1985 Somerville, S.C. u Bryant, P.E. (1985): Young children`s use of spatial coordinates. Child Development, 56, 604-613). Obwohl diese Fragestellungen in der vorliegenden Arbeit nicht diskutiert werden sollen, ist das vorgeschlagene Schema als Grundlage für die gedankliche Repräsentation von räumlichen Informationen durchaus eine wertvolle Präzisierung räumlicher Größen, die auch für die Fragestellungen und Untersuchungen der vorliegenden Arbeit von Interesse sein können. | Schumann-Hengsteler hat ihr Schema, vergleichbar mit den Intensionen von Piaget, auf die Gedächtnis- und Repräsentationsleistungen von Kindern in unterschiedlichen Altersphasen ausgerichtet. |
Bei Schumann-Hengsteler (1995, S. 84ff) Schumann-Hengsteler, R. (1995): Die Entwicklung des visuell-räumlichen Gedächtnisses. Göttingen werden drei Gruppen differenziert, in denen spezifische Merkmale und Faktoren der internen Repräsentation räumlicher Informationen zusammengefasst sind: | Merkmale und Faktoren der internen Repräsentation werden in drei Gruppen zusammengefasst. |
Abb. 32.3 Interne Repräsentation räumlicher Informationen (aus Schumann-Hengsteler 1995Schumann-Hengsteler, R. (1995): Die Entwicklung des visuell-räumlichen Gedächtnisses. Göttingen)
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Objektmerkmale markieren Positionen bevor weitere Objekte erkannt werden.
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Es werden Relationen zwischen Elementen oder zwischen einem Subjekt und Elementen räumlich repräsentiert.
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Es werde Muster als visuelle Häufung oder als zeitliche Folge von Elementen gedanklich repräsentiert.
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Die Definitionen und wahrnehmungspsychologischen Einordnungen von Piaget u. Inhelder sowie Schumann-Hengsteler verdeutlichen, dass z.B. die diskutierten Ansätze zur visuell-gedanklichen Positionierung und mentalen Repräsentation im zweidimensionalen Raum durchaus mit Fragestellungen kartographischer Informationsbildung zu vergleichen sind. In Kapitel 4. werden für den kartographischen Bereich weitere Differenzierungen raumbezogener Daten, Zeichen und Informationen dargestellt, die verdeutlichen sollen, welche komplexen optischen Szenarien in georäumlichen Präsentationen angeboten werden und visuell extrahiert sowie gedanklich weiterverarbeitet werden müssen. | Die diskutierten Ansätze mentaler Repräsentation sind mit Fragestellungen kartographischer Informationsverarbeitung zu vergleichen. |