1. Georaum und visuelle Wahrnehmung
Unsere Umwelt bildet einen wirkungsvollen Rahmen zum täglichen Erleben, um Erfahrungen zu sammeln und um Handlungen auszuführen. Sie ist ein umfassender und kaum überschaubarer Bereich der visuellen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Die georäumliche Umwelt wurde schon in sehr früher Zeit durch geographische Berichte textlich erschlossen sowie durch Karten graphisch abgebildet und damit medial zugänglich gemacht. | Die Umwelt als Handlungsraum wird durch Karten medial zugänglich gemacht. |
Heute basiert – aufgrund neuer Kartierungsmethoden und Medienangebote – die Erfassung, Abbildung und Weitergabe georäumlicher Erkenntnisse zum großen Teil auf vernetzten, interaktiven und dynamischen Kommunikationssystemen. Daraus ergeben sich veränderte und häufig höhere Anforderungen an Prozesse und Leistungen der visuellen Wahrnehmung. Um diese Prozesse unterstützen zu können, müssen entsprechende technische Methoden und Verfahren der Erfassung und Präsentation digitaler georäumlicher Daten zur Verfügung stehen sowie das mentale Leistungsspektrum der visuellen Wahrnehmung bekannt sein, das für die sensorisch-kognitive Gewinnung und Verarbeitung veränderter optischer Reize, räumlicher Informationen und handlungsorientiertem Wissen zu erbringen ist. | Digitale und elektronische Medien verändern die Anforderungen an den visuellen Wahrnehmungsprozess. |
1.1 Abbildungen und Kartographie
Georäumlichen oder kartographischen Abbildungen liegt das Prinzip zu Grunde, dass die natürliche Umwelt als dreidimensionale und gewölbte räumliche Oberfläche in einen zweidimensionalen Grundriss bzw. durch senkrechte Projektion in eine ebene Abbildungsfläche überführt wird. Dabei ist es nicht möglich, wie etwa bei einem Foto, sämtliche Details der Realität abzubilden, sondern es muss als Voraussetzung ein Modell erstellt werden, das ausgewählte Umweltobjekte und ihre räumlichen Nachbarschaften enthält sowie Regeln bestimmt, nach denen der Abbildungsprozess festgelegt und gesteuert wird. Insgesamt ergibt sich daraus folgender systematischer Zusammenhang (vgl. Bollmann 2002d)Bollmann, J. (2002d): Kartographische Repräsentation. In: Lexikon der Kartographie und Geomatik, 2, Heidelberg.. | Mit Hilfe von Regeln wird die gewölbte Erdoberfläche in die ebene Abbildungsfläche transformiert. |
Der unmittelbare Prozess der Informationsgewinnung ist eingebettet in einen komplexen Regelvorgang der Wissensgewinnung, der Externalisierung von Wissen, der Einbringung von kollektiven Erkenntnissen (Wissen) in den Vorgang der Abbildung bzw. graphischen Repräsentation und medialen Präsentation. Dies führt zusammen mit Kontextwissen oder Vorwissen wieder zur Gewinnung von individuellen Erkenntnissen (Kartenwissen). Im Zentrum dieses Regelkreises stehen die sensorischen und kognitiven Fähigkeiten sowie Bedürfnisse des wahrnehmenden Organismus, durch die sowohl die Auswahl als auch die Formen der mentalen Verarbeitung von georäumlichen Informationen bestimmt werden. | Im Zentrum stehen die sensorischen und kognitiven Fähigkeiten sowie die Bedürfnisse des wahrnehmenden Menschen. |
1.1.1 Abbildungsbedingungen
Die Beziehungen zwischen Objekten der Umwelt und abbildenden Zeichen einer georäumlichen Präsentation (in diesem Fall einer Karte) unterliegen einer großen Anzahl von Bedingungen, die sich aus der Überführung der dreidimensionalen Datenoberfläche des Georaumes in die zweidimensionale Ebene kartographischer Zeichen ergeben. Trotz visueller und kognitiver Einschränkungen, die mit diesen Transformationen verbunden sind, ergeben sich durch die entstehenden Abbildungen positive und unverwechselbare Unterstützungsformen für die Aufnahme, Vorstellung und Verarbeitung georäumlicher Informationen. Auf der einen Seite führen die Bedingungen beispielsweise zu maßstäblich bedingten Reduzierungen und Abstraktionen oder zeichenbedingten Vereinfachungen und Verzerrungen. Auf der anderen Seite kann ein Überblick gewonnen werden, verbunden mit georäumlichen Abgrenzungen, Analysen und Bewertungen, wie es in der Realität oder mit anderen visuellen Medien in dieser Form nicht möglich ist. | Durch Kartographische Abbildungen entstehen positive und unverwechselbare Unterstützungsformen für die Aufnahme, Vorstellung und Verarbeitung georäumlicher Informationen. |
Durch die Berücksichtigung bekannter Leistungen und Fähigkeiten im Zusammenhang mit der Realitäts- und Medienwahrnehmung wird im Abbildungsprozess versucht, sowohl die Reduzierung einschränkender als auch die Förderung erweiternder Aspekte der Wahrnehmung zu unterstützen. Außerdem verfügt der Kartennutzer in der Regel über Wissen und Erfahrungen, wie etwa, dass die Maßstabsreduktion sich auf die Verkleinerung abgebildeter Objekte auswirkt, und kann daher bei der Abbildung entsprechender Szenarien der Zeichenvisualisierung berücksichtigt werden. Insgesamt bestimmen folgende allgemeine Bedingungen der georäumlicher Abbildung die Prozesse der georäumlichen Visualisierung und Wahrnehmung (nach. Bollmann 2002aBollmann, J. (2002a): Kartographische Abbildungsbedingungen. In: Lexikon der Kartographie und Geomatik, 2, Heidelberg.) | Im Abbildungsprozess werden Leistungen und Fähigkeiten aus der Realitäts- und Medienwahrnehmung sowie Wissen und Erfahrungen aus der Kartennutzung berücksichtigt. |
1.1.2 Daten und Abbildungseigenschaften
Bei der Abbildung von Daten ergeben sich durch die im vorigen Kapitel genannten Abbildungsbedingungen unterschiedliche Wirkungseigenschaften für den Wahrnehmungsprozess. Die Eigenschaften betreffen die meisten abgebildeten Merkmale von Objekten, deren Grundrisse, ihre euklidischen und topologischen Verteilungsmerkmale auf der Sphäroidoberfläche sowie ihre Projektion in die Abbildungsebene. Im Verhältnis zur Wahrnehmungssituation in der natürlichen bzw. gedanklichen Umwelt ergeben sich zum Teil erhebliche Einschränkungen bzw. Verfälschungen bei der Gewinnung von Informationen, die vor allem aus den sphärischen und maßstäblichen Transformationen der Geoobjekte in die Abbildungsebene resultieren. Eine erste Gruppe von einschränkenden Abbildungseigenschaften resultiert also aus den Beziehungen zwischen dem sphärischen Georaum und den abbildenden Daten. Dies sind nach Bollmann 2002bBollmann, J. (2002b): Kartographische Abbildungseigenschaften. In: Lexikon der Kartographie und Geomatik, 2, Heidelberg. u.a. | Im Verhältnis zur Wahrnehmung in der natürlichen bzw. gedanklichen Umwelt ergeben sich erhebliche Einschränkungen bei der Gewinnung von medialen Informationen |
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dies sind insbesondere:
Verkleinerungen, Vereinfachungen und damit Verzerrungen zur Realität
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1.1.3 Graphik und Abbildungseigenschaften
Neben den genannten, von den georäumlichen Datenbedingungen ausgehenden Abbildungseigenschaften, kommen zusätzliche Wirkungen hinzu, die von der graphischen und optischen Struktur des verwendeten bildlichen Zeichenrepertoires hervorgerufen werden. Im Gegensatz zu „graphischen Abbildungen“ oder „künstlerischen Kompositionen“, bei denen häufig freie Gestaltungsformen zugelassen bzw. erwünscht sind, müssen bei georäumlichen Abbildungen die Strukturen des abgebildeten Georaums so weit wie möglich erhalten bleiben, was zu erheblichen gestalterischen Einschränkung führt. Eine zweite Gruppe einschränkender Abbildungseigenschaften resultiert also aus der Transformation von georäumlichen Daten unter graphisch-optischen Bedingungen der Abbildungsebene: | hinzu kommen:
Einschränkungen durch die Wirkung der optischen Eigenschaften der verwendeten Zeichen |
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und zwar:
die zweidimensionale Ausdehnung der Zeichen, die visuellen Grenzen ihrer Verkleinerung, der geringe Platz in der Abbildungsfläche;
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Neben der schon genannten Zweidimensionalität von Zeichen existieren Abbildungsformen, die durch modellhafte Zeichenkonstruktionen entstehen und bei denen beispielsweise individuelle Datenstandorte zu flächenhaften Netzen und daraus abgeleitete in ihrer Wirkung zu Oberflächen zusammengefasst werden (siehe Abschnitt B der Arbeit). Diese theoretischen Konstrukte ermöglichen zwar die Gewinnung von ganz spezifisch georäumlichen Informationen, sie begrenzen aber beispielsweise die visuelle Identifizierung von Grundriss- und Verortungssituationen. | aber:
durch modellhafte Zeichenkonstruktionen können ganz spezifische georäumliche Informationen gewonnen werden. |
1.1.4 Datenraum und Zeichenraum
Damit im Wahrnehmungsprozess gedanklich eine der abgebildeten Realität entsprechende georäumliche Informations- bzw. Wissensstruktur entstehen kann, muss durch graphische Zeichen besonders die Grundrissgeometrie von Objekten abgebildet und repräsentiert werden. Wie schon im vorherigen Kapitel angedeutet wurde, ergeben sich zum einen bei der Abbildung der Umwelt erhebliche Einschränkungen hinsichtlich des Vergleichs mit der sichtbaren und erfahrbaren Realität. Zum anderen werden definierte geometrische Grundrissdaten eines Raumausschnitts – die begrifflich als Datenraum zusammengefasst werden können nur in wenigen Situationen unmittelbar als sichtbare Elemente abgebildet. Ihnen kommt häufig lediglich die Funktion einer „Konstruktionsgeometrie“ zu, das heißt, sie bilden Platzierungspositionen für Zeichen (vgl. Bollmann 1992Bollmann, J. (1992): Raumvorstellung und Kartenwahrnehmung. In: Geographie und ihre Didaktik, Festschrift für Walter Sperling, 2 ,Materialien zur Didaktik der Geographie, 16, 349-362) u.a. | Daten und Zeichen lassen sich nicht immer eindeutig zusammenführen. |
1.1.5 Daten- oder Zeichenpräsentation?
Es ist also anscheinend noch nicht ausreichend geklärt, welche geometrischen Merkmale des Datenraums durch graphische Merkmale des Zeichenraums abgebildet werden müssen, damit die Elemente eines Raumausschnitts entsprechend einer bestimmten Fragestellung angemessen repräsentiert werden. In welcher Form und mit welcher Präzision werden beispielsweise aus den verschieden bildlichen (ikonischen) Zeichen, wie sie im Zeichenraum (B) abgebildet sind, Datenpositionen, geometrische Relationen und räumliche Muster visuell-gedanklich abgeleitet? So ist es denkbar, dass, um eine ungefähre Positionierung eines Objektes zu erreichen, dessen exakte Lageposition gedanklich durch ein „unschärferes“ topologisch-euklidisches Relationsmuster ersetzt wird, wie etwa mit der Aussage, dass „ein Objekt A im Areal B liegt und sich näher an der benachbarten Straße C befindet als am Fluss D“. Diese Aussage führt zwar gedanklich nicht zu einer quantitativen Positionierung des Objektes, sie enthält aber aufgrund des gewonnenen Relationskonstruktes kontextuelle Positionsmerkmale, die für weitere Prozesse der Wissensbildung von Interesse sein können. | Es ist nicht ausreichend geklärt, wie die Elemente des Datenraums durch die Elemente des Zeichenraums abgebildet werden müssen, damit gezielt Informationen wahrgenommen werden können. |
Insgesamt bleibt aber die Frage bestehen, in welchem Umfang und bei welchen Zeichenformen konkrete Elemente des Datenraums für die gedankliche Entstehung eines Realitätsausschnitts überhaupt relevant sind? Und daraus folgend, ob die Geometrie des Zeichenraums mit seinen visuellen Einschränkungen die Elemente des Datenraums bei der geometrischen Wissensbildung vollständig ersetzen können? Weiterhin ist von Interesse zu wissen, ob ein Kartennutzer über ausreichende Fähigkeit bzw. Kompetenz verfügt, relevante Informationen aus der entsprechenden Struktur des angebotenen Zeichenangebotes abzuleiten? Kann er selbstständig die Genauigkeit oder die Wertigkeit von wahrgenommenen georäumlichen Positionen gedanklich reproduzieren oder transformieren? Kommt es in dieser Situation eher zu Störungen im mentalen Verarbeitungsprozess und wird der Prozess daher eventuell abgebrochen und auf andere Fragestellungen verlagert? Dieses ist zusätzlich abhängig von übergeordneten Faktoren der Wahrnehmung, wie beispielsweise von Aufgaben und Fragestellungen, die wichtige Operationen der Informationsgewinnung beeinflussen und steuern können sowie vom fachlichen Wissenspotenzial, das für die Lösung von spezifischen Aufgaben zur Verfügung stehen muss. | Was kann der Kartennutzer visuell leisten, was kann er nicht leisten? |
Die hier angerissenen Fragen zeigen, dass Antworten oder überhaupt konkrete Fragen sowohl zum Angebot von Daten und Zeichen als auch zu Problemen prozessualer Verarbeitung von visuellen Reizen und georäumlichen Informationen erst dann möglich sind, wenn die Bedingungen und Voraussetzungen zum geometrisch-graphischen Zeichenangebot differenziert formuliert sind und damit für empirische Überprüfung zur Verfügung stehen. | – dies ist eine der zentralen Fragen der vorliegende Arbeit! |