C 6. Kartographische Prägnanz und Tachistoskopie (U4)

C 6. Kartographische Prägnanz und Tachistoskopie (Untersuchung U4)

Der Begriff Kartographische Prägnanz assoziiert die Vorstellung, dass aus oder mit einer Karte aufgrund ihrer optischen und visuellen Eigenschaften Informationen unterschiedlich erfolgreich gewonnen werden können. Diese Erwartungen können sich auf den Inhalt einer angebotenen Karte beziehen, aber auch auf ihr Reizangebot, das heißt ihre graphische Struktur oder ihre graphische und inhaltliche Zugänglichkeit.
Die Voraussetzung  dieser Bewertung finden sich in den Bedingungen des Kartengebrauchs: Muss sich der Anwender einer Karte beispielsweise mit übersichtlichen, geordneten, unterscheidbaren, einfachen oder komplexen Bedingungen auseinander setzen, das heißt kann er das graphische Angebot der Karte so anwenden, dass ein gestellter Wahrnehmungsauftrag erfüllt wird. In der Gestaltpsychologie werden ähnliche oder vergleichbare Bedingungen als Wahrnehmungsprinzipien (Gestaltgesetze) untersucht und definiert. Für das obige Beispiel werden die Bedingungen mit dem Prinzip der Prägnanz zusammengefasst. Dabei werden mit diesen Prinzipien vor allem Tendenzen der Wahrnehmung gekennzeichnet, dass zum Beispiel beim Prinzip „Einfachheit“ jedes Reizmuster so wahrgenommen wird, dass die daraus resultierende Wahrnehmungsstruktur „so einfach wie möglich“ ist. Es wird also nicht unmittelbar die Reizvorlage bewertet, sondern der Prozess oder das Ergebnis, das aus ihrem Gebrauch resultiert
Da mit Hilfe der Blickbewegungsmessung dieser Aspekt der Wahrnehmung in Karten nicht ausreichend erfasst werden kann, war es erforderlich, sich für eine geeignetere Methode zur Erfassung von Prägnanzeffekten zu entscheiden. So kann mit Hilfe der kurzzeitigen Darbietung von visuellen Reizen durch die Messung einer erforderlichen Anzahl von Darbietung auf die visuell-gedankliche Zugänglichkeit des wahrgenommenen Reizkonstruktes geschlossen werden. Mit Hilfe dieses sogenannten Tachistoskopischen Verfahrens wurden als Untersuchung U4 die wichtigsten  in U3 untersuchten Prozesse kartographischer Wahrnehmung hinsichtlich ihrer Anfälligkeit für Prägnanzeffekte überprüft.

Zur Durchführung der Untersuchung U4 erfolgte die Entwicklung der erforderlichen Hard- und Software (JavaScript-HTML) und der  verfahrenstechnischen Abläufe an der Universität Trier (Schmitt (2010): Einführung in die Tachistoskopie.  Unveröfftl. Manuskript. Univ. Trier).

6.1 Kartographische Prägnanz

Für den Bereich der menschlichen Wahrnehmung formuliert die klassische  Gestaltpsychologie mehrere Prinzipien (Gestaltgesetze). Eines davon ist das Prinzip der Prägnanz. Es besagt, dass in einer Vielzahl von Elementen jene zuerst wahrgenommen werden, die sich in einer oder mehreren Eigenschaften von den anderen abheben. In diesem Zusammenhang ist der Begriff Prägnanz mehr im Sinne von „hervorgehoben sein“ oder „Auffälligkeit“ zu verstehen. Das Prinzip der Prägnanz – oder guten Gestalt – verweist also auf die Tendenz der menschlichen Wahrnehmung, optische Reize in möglichst einfachen Gestalten visuell-gedanklich abzubilden (vgl. auch Teil A, Kap. 3.4.2.2).
Für den kartographischen Wahrnehmungsprozess haben diese Prinzipien sicherlich gleichfalls einen großen Stellenwert. Allerdings muss dabei vorab berücksichtigt werden, dass in isoliert wahrgenommenen Reizeinheiten von Karten meist verschiedene graphische und inhaltliche Attribute angeboten werden, die visuell und gedanklich getrennt identifiziert oder zielorientiert in unterschiedliche Zusammenhänge gebracht werden. Wie  Abbildung 62.0 zeigt, konzentrieren sich Blickbewegungen in Kartenbildern anscheinend spontan auf selbst gewählte Zentren, deren Strukturen durch wiederholte Fixationen vermutlich in Form von visuellen Selektionsvorgängeen gedanklich  verdichtet werden. Die Attribute, die sich in den in unterschiedlicher Form gewählten Zentren ergeben, umfassen die in dieser Arbeit mehrfach aufgeführten Kategorien der Kartographischen Modellformen. Im Rahmen der kartographischen Prägnanz ergeben sich demnach

  • geometrische und topologische Elemente und Strukturen,
  • konstruktive Elemente,
  • inhaltliche Kriterien, wie ikonische und symbolische Bedeutungen,
  • inhaltliche, topologische und geometrische Relationen sowie
  • thematische Schichten.

Die untersuchten Modellformen unterscheiden sich dabei vor allem aufgrund unterschiedler konstruktiver Elemente und verschieden angeordneter thematischer Schichten.

Abb. 62.0 Bildung von räumlichen Zentren durch Blickbewegungen
Die Blickbewegungen innerhalb der angesprochenen kartographischen Blickzentren ergeben sich demnach aus durch Sakkaden verbundene Fixationen sowie aus Mikrobewegungen (Mikrosakkaden), deren Funktion mit der Situation des Augenstillstands verbunden ist bzw. die mit der Reizverarbeitung zum Zeitpunkt der Fixationen im Zusammenhang stehen (vgl. Teil A, Kap. 3.3.2.4). Außerdem wird vermutet, dass Mikrosakkaden  anzeigen können, wie peripher auftretende Signale zu einer erhöhten Aufmerksamkeit führen. Der Wahrnehmungsvorgang in Karten, zeichnet sich durch verschiedene Formen zielorientierter Einstiegs-, Such-, Verknüpfungs- und Behaltensoperationen aus und ist durch einen permanenten Wechsel der Blickausrichtung mit hoher Aufmerksamkeitskonzentration auf relevante Reizkonstrukte gekennzeichnet. Beim visuellen Erreichen solcher Konstrukte, werden diese zunächst automatisch als eine Menge von Einzelreize flüchtig wahrgenommen und ausgewertet und gesuchte Informationen erst bei weiterer Betrachtung mit Hilfe von Strukturierungs- und Identifizierungsgprozesse abgeleitet.
Prägnanzerscheinungen beschränken sich im Zusammenhang mit den vier Untersuchungen dieser Arbeit also auf  informationstragende isolierte Blickzentren, die sich optisch als graphisch angelegte Abbildungen abgrenzen, aber strukturell durchaus, wie oben aufgeführt, aus zahlreichen und komplexen Einheiten bestehen. Die Aufträge, die in dieser Prägnanzuntersuchung an die Versuchspersonen gestellt werden (vgl. Kap. 6.3) entsprechen im Wesentlichen den Fragestellungen der Untersuchung U3. Die untersuchten Prägnanzwirkungen werden also nicht allein auf die statische Präsentation von Blickzentren bezogen, sondern in Abhängigkeit von gestellten Aufträgen und den damit verbundenen optischen Bedingungen gemessen. Die Bedingungen beziehen sich auf Wahrnehmungsoperationen, die in unterschiedlicher Kombination bei der Ausführung von Aufträgen durchgeführt werden (vgl. Tab. 61.0). Damit wird vorausgesetzt, dass  Prägnanzwirkungen spezifisch durch die jeweils gestellten Aufträge und konkret durch die damit verbundenen Wahrnehmungsoperationen beeinflusst werden.
Tab. 61.0 Wichtige optische Voraussetzungen bei der Ausführung von Wahrnehmungs-Aufträgen
Zur Untersuchung von Prägnanazerscheinungen werden im Zusammenhang mit der Lösung von Wahrnemungsaufträgen vom Wahrnehmenden unterschiedliche Elemente und Elementbeziehungen im Reizangebot einer Vorlage identifiziert. Aus der Gestaltpsychologie ist dabei bekannt, dass die Tendenz besteht, Wahrnehmungseindrücke klarer, einfacher, übersichtlicher und damit prägnanter zu machen, das heißt also, nicht nur statisch das optische Angebot zu nutzen, sondern dieses möglichst den Erfordernissen der gestellten Fragestellung anzupassen. Der Wahrnehmungsaperat ist demnach also in der Lage, nicht prägnante Vorgaben aufgrund von Erfahrungen, Gewohnheiten und Fähigkeiten visuell-gedanklich so zu strukturieren, dass sie besser erfüllt werden können. Damit bezieht sich der Prägnanzbegriff nicht nur auf prägnant erscheinende graphische Angebote, sondern vielmehr auf  die Tendenz, aus diesem Angebot, prägnante Eindrücke oder Vorstellungen abzuleiten.
Mit den Erkenntnissen der Gestaltpsychologie kann auf eine große Anzahl   kartographischer Reizmuster geschlossen werden. In der Literatur werden dazu mehr als 100 Gestaltprinzipien erwähnt und davon neun wichtige, zu denen auch die Prägnanz gerechnet wird. Grundaussage ist, dass jedes Reizmuster so gesehen wird, dass die resultierende Struktur so einfach wie möglich ist („Einfache Gestalt“). Für die sieben untersuchten Modellformen ist weiterhin von grundlegendem Interesse, dass Elemente entweder als vordergründige Figuren oder im Hintergrund wahrgenommen werden („Figur-Grund-Trennung“). Begründet wird dies damit, dass auf und zwischen diesen Schichten in der Regel strukturierte Beziehungen bestehen, die bei der Informationsgewinnung eine entscheidende Rolle spielen. Insgesamt wird mit dem Begriff der Prägnanz  der Wahrnehmung ein Grundprinzip zuerkannt („Gute Gestalt“), das als prägnante Form offenbar bessere Wahrnehmungsbedingungen anbietet, das heißt sie leichter erkannt, besser behalten und in der Erinnerung gespeichert werden können.

Damit wird für die folgende Untersuchung (U4) vorausgesetzt, dass aufgrund  des  unterschiedlich ausgeprägten Reizangebotes der untersuchten Vorlagen, die gestellten Aufträge durch die VPn mit Hilfe einer interpretierbaren Anzahl von Darbietungen (tachistoskopischen Darbietungen) und mit Hilfe von visuell-gedanklich verfügbaren  „Prägnanzvorstellungen“ so weit wie möglich erfüllt werden.

Beispiele für mehrschichtiges Reizangebot im Rahmen von Modellformen